Interview mit Schweizer Expertin«Das hitzebedingte Sterberisiko ist schon ab 30 Grad erheblich»
Hohe Temperaturen fordern auch in der Schweiz Todesopfer. Was dagegen unternommen wird und wie man sich selbst schützen kann, erklärt Martina Ragettli, die zum Thema Klimawandel und Gesundheit forscht.
Das aktuelle Badiwetter macht viele glücklich. Doch für ältere und kranke Menschen können Hitzesommer, die immer häufiger und intensiver werden, eine gesundheitliche Belastung sein und im schlimmsten Fall sogar zum Tod führen. Dieses Risiko werde unterschätzt, sagt Martina Ragettli vom Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Institut.
Frau Ragettli, wie viele Menschen sterben in der Schweiz zusätzlich während eines Hitzesommers?
Wir haben bis jetzt die vier wärmsten Sommer untersucht: 2003, 2015, 2018 und 2019. Im Rekordsommer 2003 sind zwischen Juni und August fast 1000 Personen mehr gestorben als normalerweise in dieser Jahreszeit. 2015 waren es ebenfalls über 800. In den anderen beiden Jahren fiel die Übersterblichkeit geringer aus. Das deutet darauf hin, dass die Massnahmen der Behörden wirken.
In der Deutschschweiz werden aber nur in manchen Kantonen und Städten einzelne Massnahmen umgesetzt, Hitzeaktionspläne wie in der Westschweiz und im Tessin gibt es nicht. Weshalb?
Die Romandie orientiert sich traditionell stark an Frankreich. Und dort wurde 2003 ein nationaler Hitzeplan erarbeitet, nachdem der Jahrhundertsommer 15’000 zusätzliche Todesfälle gefordert hatte. In der Schweiz gibt es keinen nationalen Plan, weil die Gesundheitsversorgung Aufgabe der Kantone ist. Aber der Bund unterstützt sie beispielsweise mit Informationsmaterial.
Gibt es bei den Todesfällen einen Röstigraben?
Ich glaube nicht, dass man das so sagen kann. Verschiedene Deutschschweizer Bergkantone sind grundsätzlich weniger stark von Hitze betroffen als die Genferseeregion und das Tessin. In diesen Regionen haben wir aber beobachtet, dass das Risiko für hitzebedingte Sterblichkeit seit Einführung von Aktionsplänen abnahm.
Ab welcher Temperatur wird es denn gefährlich für die Gesundheit?
Das hitzebedingte Sterberisiko ist in der Schweiz schon ab 30 Grad erheblich und nimmt mit jedem weiteren Grad stark zu. Tropennächte, in denen die Temperatur nicht unter 20 Grad fällt, sind ein zusätzliches Gesundheitsrisiko, weil sich die Menschen dann wegen der fehlenden Nachtabkühlung nicht ausreichend erholen können. Allerdings ist es auch sehr individuell, wie man Hitze empfindet.
Wer ist besonders gefährdet?
Die grösste Risikogruppe sind Personen ab 75 Jahren, sie spüren die Hitze weniger und haben ein vermindertes Durstgefühl. Gefährdet sind auch Menschen mit chronischen Krankheiten, Kleinkinder, schwangere Frauen sowie Menschen, die draussen arbeiten.
Was passiert, wenn sich der Körper überhitzt?
Symptome von Hitzestress sind: Schwäche, Schwindel, Verwirrtheit, Kopfschmerzen, erhöhter Puls, Übelkeit, Durchfall. Wenn der Organismus die Körpertemperatur durch Schwitzen und erhöhte Hautdurchblutung nicht mehr genügend kühlen kann, führt das zu Kreislaufproblemen, die einen Hitzschlag auslösen und bestehende Erkrankungen verschlimmern können.
Ihre Studien zeigen, dass die erste Hitzewelle des Jahres besonders gefährlich ist. Warum?
Grundsätzlich müssen bei Hitze mehr Menschen notfallmässig ins Spital, aber vor allem zu Beginn des Sommers. Die Zahl der Spitaleintritte und Todesfälle ist während der ersten Hitzewelle meist am grössten. Und je früher diese auftritt, desto stärker sind ihre Auswirkungen auf die Gesundheit. Das kann damit zusammenhängen, dass die Bevölkerung anfangs noch nicht sensibilisiert ist und ihr Verhalten schrittweise an höhere Temperaturen anpasst. Zudem ist allenfalls Anfang Sommer der Anteil der potenziellen Risikopersonen grösser als im Spätsommer.
Was sind die Hauptursachen für hitzebedingte Todesfälle?
Meistens trifft es Personen, die schon bestimmte chronische Krankheiten haben und für welche die Hitze eine zusätzliche Belastung darstellt. Die häufigsten Ursachen für hitzebedingte Todesfälle sind Herz-Kreislauf-Störungen, Atemwegserkrankungen und Nierenversagen.
Kann die aktuelle Übersterblichkeit auf die Hitze zurückgeführt werden, oder ist sie vielmehr Covid-bedingt?
Dieses Jahr erlebten wir die erste Hitzewelle schon im Juni, und in der Folge wurde eine Übersterblichkeit beobachtet. Es gibt also sicher einen Zusammenhang. Covid ist ein weiterer Treiber. Wichtig zu wissen ist, dass die meisten aufgrund der Hitze verstorbenen Personen noch mindestens ein Jahr länger gelebt hätten.
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Ragettli zufolge ist die Übersterblichkeit also zumindest teilweise auf die hohen Temperaturen zurückzuführen. Derzeit sterben in der Schweiz 25 Prozent mehr Menschen als normalerweise zu dieser Jahreszeit.
Um hitzebedingte Todesfälle zu verhindern, sind nicht nur die Behörden gefordert, sondern auch die Bevölkerung. Ältere, chronisch kranke und pflegebedürftige Personen, die ein hohes Risiko haben und nicht engmaschig von Fachpersonen begleitet werden, benötigen aktuell besondere Aufmerksamkeit. Hier ist familiäre und nachbarschaftliche Unterstützung gefragt. «Während einer Hitzewelle sollte man die Grosseltern öfter besuchen und schauen, ob es ihnen gut geht», rät Ragettli.
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