Kommentar zum Schweizer BuchpreisDas einzige Buch, das man ernst nehmen konnte
Martina Clavadetscher erhält den Schweizer Buchpreis 2021. Die Jury wendete so ihre endgültige Blamage gerade noch ab.
Der Theatersaal in Basel ist bis auf den letzten Platz besetzt. Selbstverständlich mit Zertifikatspflicht. Nach einer Geisterzeremonie im letzten Jahr ist alles da für eine festliche Preisverleihung, auch wenn die Shortlist dieses Jahr nicht besonders schillernd ist. «Es hat gekracht im Gebälk», sagt Moderatorin Nina Mavis Brunner charmant, womit allen klar ist, warum dieses Jahr nur vier Nominierte in der ersten Reihe sitzen.
Man ist es beinahe nicht mehr gewohnt, was alles zu einem solchen Anlass dazugehört: Musik, Applaus, Grussworte, Applaus, alle Nominierten für Fotos auf die Bühne, Applaus, Laudatio für jeden, Applaus. Und dann: Die 42-jährige Autorin und Dramatikerin Martina Clavadetscher gewinnt mit ihrem Roman «Die Erfindung des Ungehorsams» den mit 30’000 Franken dotierten Schweizer Buchpreis. Grosse Erleichterung! Es ist das originellste Buch dieses Jahrgangs und das einzige, welches man wirklich ernst nehmen kann, wenn die Idee des Preises doch ist, herausragende literarische Werke zu würdigen. Weiter stand Clavadetscher bereits 2017 mit ihrem Debütroman «Knochenlieder» auf der Shortlist.
Roman über künstliche Intelligenz, wie es ihn noch nicht gab
Die Jury begründet ihren Entscheid wie folgt: «Martina Clavadetscher hat einen Roman über künstliche Intelligenz geschrieben, wie es ihn noch nicht gab: formal avanciert und hochgradig sinnlich. Keine Dystopie mit raunender Technologiekritik, sondern ein waghalsiger Text, der den künstlichen Wesen Leben einhaucht. Im Roman wird spürbar, wie erst unsere Sehnsüchte und Nöte den Maschinen Macht verleihen.» Jurysprecher Daniel Graf lobte in seiner Laudatio weiter: «Das Erzählen selbst gehört zu den grossen Themen dieses Buches.»
Martina Clavadetscher wagt in ihrem zweiten Roman viel, und das ist gut so. «Die Erfindung des Ungehorsams» stellt drei Frauen ins Zentrum, die irgendwie miteinander verbandelt sind, aber zu unterschiedlichen Zeiten in verschiedenen Welten leben: in einem Penthouse in Manhattan, einer chinesischen Sexpuppenfabrik und mitten in einer britischen Grafschaft des 19. Jahrhunderts. Die Geschichte von Ling, der Produktprüferin in der chinesischen Fabrik, ist die überzeugendste Erzählung.
Das kann Clavadetscher: Sehr genau beschreiben, wie Beine, Brüste und Arme an Haken hängen – diese Sexpuppen ohne Köpfe.
Das kann Clavadetscher: Sehr genau beschreiben, wie Beine, Brüste und Arme an Haken hängen – diese Sexpuppen ohne Köpfe. Sie sind ungiftig, sicher und dadurch: lebensecht. Parallel entwickeln die Programmierer die Sprachfunktion. Harmony, so heisst die künstliche Intelligenz, soll Small Talk zwischen den Puppen und ihren Besitzern ermöglichen. Aber: «Der Kopf ist tabu. Im Kopf wohnen die Gedanken.» Hier fragt der KI-Roman: Was empfindet ein Roboter wirklich? Wo findet die Fortpflanzung statt, und was geschieht, wenn das Motiv des männlichen Puppenspielers als Schöpfer aufgehoben wird? Die Gebärmutter jedenfalls fehlt.
«Die Erfindung des Ungehorsams» ist ein wilder und teilweise labyrinthischer Roman, in dem man sich, wenn man nicht aufpasst, verlaufen kann. Aber es ist die einzig richtige Entscheidung, ihn mit dem Schweizer Buchpreis 2021 auszuzeichnen.
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