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Meinung

D. rex aus Transsilvanien

Der «D. rex» – höher als eine Giraffe: Skelett des geflügelten Sauriers aus der Kreidezeit im Dinosaurier-Museum Altmühltal bei Ingolstadt. Foto: Andreas Gebert (Getty Images)
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«Es ist der siebte Halswirbel», sagt Mátyás Vremir, als er den Steinbrocken aus einer Glasvitrine im alten Gebäude der Universität Cluj hebt und seinem Besucher in die Hände drückt. Und tatsächlich, wer je ein Lammkotelett oder einen Ochsenschwanzknochen auf dem Teller hatte, erkennt die Ähnlichkeit. Dieses handballgrosse Stück Stein hat die Form eines Wirbels. Dass es der siebte Halswirbel ist und nicht der sechste oder achte, nun ja, das müssen Experten entscheiden. Viel interessanter ist, in wessen Hals er steckte.

Wenn es nämlich stimmt, was Vremir und namhafte Kollegen von ihm letzte Woche verkündet haben, dann ist es eine Weltsensation. Dann ist dieses Fossil ein über Jahrmillionen versteinertes Überbleibsel eines Ungeheuers aus der Urzeit, eines Flugsauriers mit gewaltigen Ausmassen, der vor gut 66 Millionen Jahren im heutigen Transsilvanien lebte. Seine eckigen, ledrigen Schwingen breitete das Reptil vermutlich über eine Spannweite von 13 Metern aus, vielleicht waren es sogar 20 Meter. Am Boden stehend war es höher als eine Giraffe. Mark Norell, der Chefpaläontologe des berühmten Museum of Natural History in New York, hält es für den grössten je entdeckten Pterosaurier. So heissen die geflügelten Saurier der Kreidezeit.

Gefunden hat Mátyás Vremir den Wirbel sowie weitere Knochen mitten im rumänischen Transsilvanien alias Siebenbürgen. Weil man in seinem Land trotz EU-Mitgliedschaft kaum von einer akademischen Stelle leben kann, hat Vremir vor einigen Jahren einen Job an der Universität Cluj aufgegeben und bietet Bohrfirmen seine Kenntnisse an. Doch in jeder freien Minute geht der schlaksige Rumäne mit dunklem Zottelhaar, Fünftagebart, Käppi und Sonnenbrille seiner wahren Leidenschaft nach: der Jagd nach Dinosauriern.

Naturkunstwerk: Sandsteinwand im siebenbürgischen Becken. Foto: iStock

Zwei Autostunden von Cluj entfernt, der zweitgrössten Stadt Rumäniens, hat er einen einzigartigen Hotspot für Fossilien aufgetan. In einer zerfurchten Wand aus rötlichem Sandstein steckte der Hals­wirbel, wie auch ein Teil des Oberarms, ein Handwurzelknochen und ein Stück des vermutlich fast zwei Meter langen Schnabels des Flugsauriers.

Transsilvanien, das weckt natürlich Assoziationen. Kein Wunder, dass das Reptil in Fachkreisen den Codenamen «D. rex» bekam – «D» wie «Dracula». Seine offizielle Bezeichnung wird die geflügelte Echse erst bekommen, wenn alle Knochensplitter, von denen es Dutzende gibt, analysiert sind und eine Fachveröffentlichung vorliegt. Eine Rekonstruktion dieses neuen Flugsauriers ist aber bereits in der Sonderausstellung «Die Herrscher der Lüfte» im bayerischen Dinosaurier-Museum Altmühltal zu sehen.

Wanderstiefel und Hämmer

Doch wie findet man die Überreste eines Flugsauriers? Tatsächlich ist die Feldarbeit eine Wissenschaft ohne viel Brimborium, ohne grosse Geräte, ohne Claims, wie sie Archäologen abstecken, und vor allem ohne Radargeräte oder gar Satelliten. Lediglich Wanderstiefel, robuste Hosen und ein paar Hämmer sind im Gepäck. Um Vremirs Hals baumelt eine Lupe. Von Cluj führt der Weg in einem alten Geländewagen ins Zentrum Transsilvaniens. Über Orte, die früher Karlsburg hiessen und heute Alba Iulia, erreicht man Mühlbach, das heutige Sebes. Das 20'000-Einwohner-Städtchen liegt in einer weitläufigen Ebene, im siebenbürgischen Becken, das von den Gebirgsrücken der Karpaten umringt ist. Vor Urzeiten, als es noch den Riesenkontinent Pangäa gab, waren die Erhebungen Riffe, und das siebenbürgische Becken war eine Insel.

Das dortige Erdreich ist ein Archiv vergangener Erdzeitalter. Um an dieses zu gelangen, brauchen Paläontologen Stellen, an denen die unter Feldern, Wiesen, Strassen, Fabrikgebäuden und Bauernhäusern verborgenen Sedimente zugänglich sind. Solche «Aufschlüsse», wie Experten es nennen, sind wie offene Wunden in der Landschaft, Einschnitte an Flussläufen oder abgebrochene Steilhänge. Die markanteste solche Stelle im siebenbürgischen Becken ist eine rote Sandsteinwand, etwa zwei Kilometer nordöstlich von Sebes. Sie heisst hier Râpa Rosie und prangt wie ein Leuchtfeuer in der Landschaft. Es ist ein einzigartiges Naturkunstwerk, das mit jedem Meter, den man sich nähert, an Schönheit gewinnt. Der seit Jahrtausenden über die fast 130 Meter hohe Bruchkante abfliessende Regen hat ein organisches Muster runder Kamine und Furchen ins Gestein gefräst, die an Orgelpfeifen erinnern. In Querrichtung verlaufen Streifenmuster: die Spuren ehemaliger Flüsse und Seen.

Noch Tausende Saurier stecken in Siebenbürgen im Boden.

Lange Zeit bezweifelten Geologen, dass diese Erdschichten aus der Kreidezeit stammen, geschweige denn aus dem Maastrichtium, dem letzten Abschnitt der Kreidezeit, welches sein Ende fand, als ein riesiger Meteorit im Golf von ­Mexiko einschlug und das Schicksal der Dinosaurier besiegelte. Doch spätestens seit Vremirs Entdeckung sind die ­Zweifel beseitigt. Im siebenbürgischen Becken stecken vermutlich auf gut 100 Quadratkilometern noch Tausende Saurier im Boden. Davon ist der Sammler Raimund Albersdörfer ebenso überzeugt wie der New Yorker Paläontologe Mark Norell. Die Gegend um Sebes ist noch weniger erforscht als das 80 Kilometer entfernte Hatzeg, wo vor einigen Jahren ebenfalls Reste eines grossen Flugsauriers, des Hatzegopteryx, entdeckt wurden. Kein Wunder, dass Paläontologen aus aller Welt in jüngster Zeit nach Transsilvanien gereist sind. Manche blieben ein oder zwei Wochen, um die magische rote Wand abzuklopfen.

Doch die meiste Zeit des Jahres arbeitet Mátyás Vremir hier alleine, manchmal helfen ihm Freunde aus dem Ort, die er mit seiner Begeisterung angesteckt hat. Die Hälfte der Winkel und Nischen dieser Klippe aus rotem Sediment hat Vremir schon abgesucht – am Seil hängend und lediglich mit einem Hammer bewaffnet. Unvermittelt drückt er seinen Besuchern ebenfalls einen Hammer in die Hand, und los geht die Suche. Der Blick schweift zunächst über die abgebröselten Kiesel unterhalb der roten Orgelpfeifen. Das ist der erste Tipp des Fossilienjägers: Knochensplitter am Boden sind ein Indiz dafür, dass oben in der Wand noch mehr steckt, grössere Knochen womöglich. Tatsächlich dauert es nur Minuten, bis sich zwischen Kieseln und Geröll die ersten, wenige Zentimeter grossen Splitter finden.

Abseilen zu den Fossilien

Wenn Vremir und seine Freunde systematisch auf die Suche gehen, dann schlagen sie oberhalb der Steilwand ihre Zelte auf und seilen sich zwischen den Orgelpfeifen ab. So hat Vremir das erste Stück des Flugsauriers entdeckt. Auf einem Foto zeigt er, wie es in der Wand steckte: wie die angebrochene Schale eines Strausseneis.

Unterstützt wird der Rumäne seit Jahren von Raimund Albersdörfer, der jahrelang selbst Fossilien ausgegraben hat und das Geschäft kennt wie kaum ein anderer. Ein gut erhaltenes Saurierskelett ist schnell mehr als 1 Million Euro wert. Doch anders als in der Archäologie, wo private Händler unter Forschern als Grabräuber gelten, gibt es in der Paläontologie eine freundschaftliche Symbiose zwischen Aficionados und Akademikern. Keine Universität hätte die Mittel, um jahrelang nach Fossilien zu fahnden. Also erledigen diese Arbeit oft passionierte und mitunter geschäftstüchtige Fossiliensucher. Wertvolle Funde werden im Gegenzug zumindest zeitweise der Forschung und Museen überlassen. Albersdörfer hat Knochen und Fossilien in alle Welt verkauft, zum Beispiel einen 30 Meter langen Diplodocus an eine Shoppingmall in Abu Dhabi.

Am nächsten Morgen zeigt Vremir eine weitere Stelle, an der frühere Erdzeitalter zugänglich sind. Es ist ein kleiner Fluss, dessen Pegel sich wegen eines Kraftwerks flussaufwärts mehrmals täglich ändert. Weil die wechselnden Wasserstände ständig an der Böschung schaben, ist an den Windungen ähnlicher Sandstein freigelegt wie in der Orgelwand. Bei Niedrigwasser kann man, Totholz und Plastikmüll ignorierend, ständig Neues im Sediment entdecken.

Ein zwei Meter langes Urzeit-Schwein trägt den Spitznamen «Gulasch».

Tatsächlich dauert es erneut keine 15 Minuten, bis ein Helfer das magische Wort ruft: «Knochen! Hier ­stecken Knochen!» Und in der Tat lugt aus dem rötlichen Sediment ein weiss-graues Oval hervor, der Laie könnte es für ein verbranntes Stück Holz halten. Doch bei ­genauem Hinsehen ist die faserige Struktur zu erkennen, wie sie im hohlen In­neren eines Knochens typisch ist. Die Aufregung ist gross, Handys werden hervorgeholt. Mátyás Vremir entdeckt anderthalb Meter weiter ein weiteres Stück Knochen im Gestein, flacher, womöglich ein Schulterblatt. Die Freunde vom örtlichen Heimatmuseum werden alarmiert, damit sie die Knochen möglichst noch vor dem nächsten Hochwasser bergen.

Es ist durchaus möglich, dass diese Stücke eine neue Sensation zutage bringen. 2009 hat Mátyás Vremir an genau diesem Fluss den kleinen Balaur gefunden. Und erst vor kurzem ist nur wenige Hundert Meter flussaufwärts ein weiteres Skelett aufgetaucht. Ein pummeliges, rund zwei Meter langes Urzeit-Schwein. Die Forscher haben ihm den Spitznamen «Gulasch» gegeben.

Rund um den «D. rex» sind derweil noch längst nicht alle Fragen geklärt: Konnte er überhaupt fliegen? Oder vielleicht nur im jugendlichen Alter? Falls er abheben konnte, dann auf recht lustige Weise: indem er sich auf die vorderen Krallen stützte und zunächst die Hinterbeine hob, um erst dann die Schwingen auszubreiten. Einig sind sich die Forscher, dass der Flugsaurier am Boden auf allen vier Gliedmassen lief und vermutlich das grösste Tier auf seiner Urzeitinsel war. Andererseits war Dracula wohl kein guter Jäger. «Seine Augen waren winzig», sagt Mátyás Vremir. Und ob er riechen konnte? Wer weiss.