Contes epochale Abrechnung
Der Premier beendet die erste populistische Regierung Westeuropas und tritt zurück. Er wirft Matteo Salvini alles Böse vor. Nun öffnet sich ein gelb-rotes Szenario.
Sogar der Zeitungshändler an der Ecke ist in den Ferien, die Strassen sind wie stumm gestellt. Rom ist leer und leise. Nur Touristen ziehen durch die Gassen, schwitzend unter der Augustsonne und mit müdmatten Gesichtern, während im Senat, dem Palazzo Madama bei der Piazza Navona, die Geschicke Italiens neu sortiert werden. In aller Hektik, laut und ausfällig.
Es ist dies schon eine sehr einzigartige Stimmung für eine Regierungskrise, so mitten im Sommer. Eine Premiere selbst für die Italiener, die ja nun wirklich schon alles erlebt haben in diesem dramatischen Genre.
Hampelmann in Hauptrolle
Die Hauptrolle im Schlussakt der ersten, rein populistischen Regierung in Europa aus Lega und Cinque Stelle fiel ausgerechnet jenem Mann zu, der sich fünfzehn Monate wie ein geduldeter Statist fühlen musste, ein Hampelmann, obschon er eigentlich der Chef war, wenigstens formal: Premier Giuseppe Conte. In Wahrheit war er der Vize seiner Vizes, von Innenminister Matteo Salvini und Arbeitsminister Luigi Di Maio, und auch das war eine Groteske für die Geschichtsbücher. Conte jedenfalls nahm die Bühne im Sturm, mit einer fulminanten Rede, die ihn wahrscheinlich für alle Geringschätzungen und Degradierungen der letzten Monate entschädigte (hier geht es zum Artikel).
Er warf Salvini, der neben ihm sass und alles mit reger Mimik quittierte, eine lange Reihe von Kompetenzüberschreitungen, Illoyalitäten und institutionellen Unkorrektheiten vor. «Caro Matteo», sagte er immer wieder und duzte ihn während der ganzen Rede, was für sich schon sehr ungewöhnlich ist, «wir brauchen keine Männer in diesem Land, die für sich Vollmachten reklamieren.» Aber solche, die eine Sensibilität für die republikanischen Regeln hätten. Salvini habe mit der Forcierung dieser Regierungskrise mitten im Sommer allein an sich und seine Partei gedacht und das Land einem grossen Risiko ausgesetzt.
«Die Regierung endet hier», sagte Conte. Er werde sich die Debatte anhören, dann werde er seinen Rücktritt einreichen.
So deutlich und persönlich hat sich selten ein Premier im Parlament geäussert. Nichts erinnerte mehr an seinen ersten Auftritt im Juni 2018, als der Rechtsprofessor und Anwalt aus Apulien den Italienern, die bis dahin noch nie von ihm gehört hatten, mit gehauchter Stimme erzählte, er werde der Advokat des Volkes sein, «l'avvocato del popolo».
Stolz und sogar etwas staatsmännisch
Es sollte, wie so vieles an dieser selbst ernannten «Regierung des Wandels», eine Verheissung bleiben. Einfach mal so proklamiert. Conte hat sich Salvini allein in der Migrationsfrage so oft gebeugt, dass man sich fragen konnte, ob er jemals wieder würde gerade stehen können. Nun also stand er da, stolz und sogar etwas staatsmännisch. So schnell geht das heute.
Conte könnte nun auch eine Variante für die Zukunft werden. Seine Entourage liess er wissen, dass er einem Conte II nicht abgeneigt wäre. Der Süditaliener ist populär, beliebter noch als Salvini. Vielleicht liegt das daran, dass er sich als Mittler selten exponieren musste. Vielleicht genoss er auch nur deshalb pietätsgetriebene Sympathien, weil ihn seine Vizes bevormundeten.
Aber Conte ist jetzt ein Faktor, man sagt ihm auch einen starken Draht zum Staatspräsidenten nach, zu Sergio Mattarella. Jedenfalls hat er sich in kurzer Zeit vom Diener zum Rivalen Salvinis gewandelt. Das ist natürlich eine etwas gar akrobatische Volte, aber man nimmt sie ihm ab. Conte steht den Cinque Stelle nahe, die hatten ihn damals ins Amt befördert. Und da diese Fünf Sterne im aktuellen Parlament seit ihrem grossen Wahlsieg vom 4. März 2018 nun mal mit Abstand am meisten Abgeordnete und Senatoren stellen, wird keine Krisenlösung, so sich in den kommenden Wochen überhaupt eine finden lässt, an ihnen vorbeigehen. Conte ist dann ihr bester Wert.
Plausibelstes Szenario
Das rührt auch daher, dass er früher «immer links» gewählt hat, wie er mehrmals bekannte. Es war ein Bekenntnis mit Zukunftssinn, nun, da die Sterne wohl mit den Sozialdemokraten vom Partito Democratico über ein gemeinsames Regierungsprogramm verhandeln werden. Einfach wird das nicht, dafür hat man sich zu lange bekämpft, bitter und manchmal auch böse. Doch von allen möglichen Szenarien ist dieses gerade das wahrscheinlichste. Schliesslich hatte man es im vergangenen Jahr schon einmal miteinander versucht, arithmetisch wäre eine Mehrheit schnell gefunden.
Ein anderer linker Stern ist Roberto Fico, der Präsident der Abgeordnetenkammer. Auch der Neapolitaner gilt als möglicher Premier einer gelb-roten Mehrheit. Gelb steht in Italien für die Cinque Stelle. In einer solchen Konstellation würde Luigi Di Maio, der «Capo politico» der Bewegung, wohl zurückgestuft. Er war es, der die Sterne dem ultrarechten Juniorpartner Salvini untergeordnet hatte, in allen grossen Angelegenheiten. Die Seele der einst ökologischen, sozial engagierten Partei hat er verkauft. Unter seiner Führung schrumpften die Cinque Stelle zum Elend. Ein Plätzchen im neuen Kabinett würde man aber auch für Di Maio finden müssen, er wäre sonst arbeitslos.
Gefahr eines Rückschlags
Die Sozialdemokraten würden mit gemischten Gefühlen in Koalitionsgespräche gehen. Sie waren keine sehr effektive Opposition, erneut waren sie mehr mit internen Kämpfen beschäftigt. Die Möglichkeit zur Macht fällt ihnen zufällig zu, sie verdanken sie einzig dem erstaunlichen Denkfehler Salvinis. Nun fragt man sich im Partito Democratico, ob sie es ihrem Volk nicht einfach schuldig seien, die Gelegenheit zu nutzen und das Land vor einer harten, tendenziell illiberalen Rechten zu bewahren. Davon sind die meisten überzeugt. Manche warnen aber davor, dass ein Bündnis der Schwachen, Cinque Stelle und Sozialdemokraten, den Starken des Moments, also Salvini, nur noch stärker machen würde.
Und tatsächlich: Salvini würde sich zum alleinigen Kämpfer gegen alle stilisieren. Das kann er gut. Propaganda ist sein Fach, Politik geht so. Doch fragt sich, ob die Masche auch funktioniert, wenn er einmal nicht mehr Innenminister ist, keine Staatsflieger mehr hat, die ihn zu allen Piazze im Land bringen, kein Staatsgeld für sein Team von fünfzehn Mitarbeitern, die rund um die Uhr seine Profile und Konten in den sozialen Netzwerken bedienen. Ausser es gibt da Geld aus Moskau. Aber das wäre dann auch ein Problem.
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