EnergiezukunftChina testet ungewöhnlichen Kernreaktor
Am Rand der Wüste Gobi geht ein experimenteller Atommeiler in Betrieb, der mit Flüssigsalz und Thorium arbeitet. Bei Erfolg soll eine grössere Version folgen. Doch es gibt viele offene Fragen.
Kann Kernkraft sicher sein, wenig Atommüll erzeugen und auch noch ohne den begrenzten Kernbrennstoff Uran auskommen? Chinesische Forscher wollen all das mit einem besonderen Testreaktor in der Stadt Wuwei im Nordwesten des Landes beweisen, der noch im September in Betrieb gehen soll, wie das Fachmagazin «Nature» berichtet. Der Meiler soll zwei Megawatt Leistung erzeugen – weniger als eine Windkraftanlage. Betrieben wird er von Forschern des Shanghai Institute of Applied Physics. Gelingt das Experiment, soll bis 2030 ein Kraftwerk mit 30 Megawatt elektrischer Leistung entstehen, genug für eine Kleinstadt.
Zweierlei unterscheidet den Reaktor am Rand der Wüste Gobi von herkömmlichen Kernkraftwerken. Erstens nutzt er keine festen Kernbrennstäbe, sondern ein flüssiges Salz, das den Brennstoff enthält. Zweitens verbrennt er Thorium, das drei- bis viermal so häufig in der Natur vorkommt wie Uran. Das schwach radioaktive Element fällt als Abfall beim Abbau von Seltenen Erden an, die China in rauen Mengen gewinnt und exportiert.
Thorium könnte für China eine Alternative zur klimaschädlichen Kohle sein, von der das Land weltweit am meisten verbrennt. Die Volksrepublik will ihren Kohlehunger von 2030 an senken und bis 2060 klimaneutral werden. Neben regenerativen Energiequellen baut Peking auch die Kernkraft aus, allerdings deutlich langsamer. Im vergangenen Jahr stieg der Anteil der Kernenergie an der chinesischen Stromerzeugung von 4,9 auf 5,6 Prozent. In Sachen Kernkraft zeigt sich China experimentierfreudig, wie der neue Reaktor in Wuwei zeigt. Das Forschungsprojekt begann im Jahr 2012, laut Nature investiert China umgerechnet rund 400 Millionen Euro.
Schon in den 1960er-Jahren wurden solche Reaktoren getestet
Ganz neu sind jedoch weder Flüssigsalzreaktoren noch die Nutzung von Thorium. Auch die Kombination aus beidem testeten Physiker schon in den 1960er-Jahren am Oak Ridge National Laboratory im US-Staat Tennessee. In Flüssigsalzreaktoren wird das Salz im Reaktorkern als Substrat eingesetzt, das spaltbare Material ist darin gelöst. Die Hitze der nuklearen Kettenreaktion im Reaktorkern wird über einen Wärmetauscher an den Kühlkreislauf abgegeben, der seinerseits Wasser erhitzt und eine Dampfturbine antreibt, die Strom erzeugt. In manchen Designs zirkuliert im Kühlkreislauf ebenfalls flüssiges Salz.
Thorium verbrennt anders als Uran. Selbst ist es nicht spaltbar. Um im Reaktor nutzbar zu werden, muss ein Thorium-Atomkern erst ein Neutron einfangen. Dadurch wird der Kern zu einem spaltbaren Isotop von Uran. Dieses vollzieht dann die energieerzeugende Kernspaltung. Dabei werden erneut Neutronen frei, die wiederum aus Thorium neuen Brennstoff erbrüten. So kommt eine Kettenreaktion in Gang.
Ob sich in Wuwei indessen erfüllt, was Experten sich von der Technologie erhoffen, ist umstritten. Befürworter des Flüssigsalzreaktors loben gerne dessen «inhärente Sicherheit«. Gemeint ist eine Art Schutz durch Naturgesetze gegen Konstruktionsmängel und menschliches Versagen. Zumindest Kernschmelzen, wie sie im japanischen Fukushima 2011 stattfanden, könnten so ausgeschlossen werden, so das Versprechen.
Weniger Atommüll, das ist eine der grossen Hoffnungen
Eine Analogie dazu ist ein Wasserglas, das sich nach oben hin verjüngt. Sein tief liegender Schwerpunkt schützt es gegen Umkippen, auch wenn jemand dagegen stösst. Auf ähnliche Weise würgen Salzschmelze-Reaktoren eine drohende Kernschmelze im Ansatz ab. Läuft der Reaktor heiss, dehnt sich die Salzschmelze stark aus. Das treibt die spaltbaren Atomkerne auseinander, was die Kettenreaktion bremst. Da Naturgesetze das von selbst regeln, würde der Vorgang auch bei heruntergefahrenen Systemen funktionieren.
Sören Kliem glaubt, dass dieser Mechanismus gut funktioniert. Zwar existiere er auch in herkömmlichen Reaktoren, sagt der Experte für Reaktorsicherheit vom Helmholtz-Zentrum in Dresden-Rossendorf. Doch in der Salzschmelze sei er stärker ausgeprägt und somit wirkungsvoller. «Es gibt kein inhärent sicheres Reaktorsystem», entgegnet Christoph Pistner, Nukleartechnik-Experte beim Öko-Institut in Darmstadt. Die Kernschmelze sei nicht der einzige mögliche Unfall. Bei einem Flüssigsalzreaktor seien andere, durchaus schwere Störfälle möglich. Als Beispiel nennt er, dass eine zu kühle Salzschmelze erstarren und den Kreislauf blockieren könnte.
Eine weitere Hoffnung, die auf dem neuen chinesischen Reaktor ruht: weniger Atommüll. In einem normalen Atommeiler entsteht zweierlei radioaktiver Abfall. Zum einen Elemente, die aus der Spaltung von Uran hervorgehen. Zu diesen Spaltprodukten gehört das Isotop Iod-131, das im Jahr 1986 aus dem explodierenden Reaktor in Tschernobyl entwich. Uran-Atomkerne können aber auch Neutronen einfangen, ohne gespalten zu werden. Dann entstehen schwere radioaktive Elemente, zum Beispiel das giftige Plutonium.
Mit Thorium als Brennstoff würde deutlich weniger Plutonium entstehen. «Dafür entstehen andere schwere Elemente und sowieso auch langlebige Spaltprodukte«, schränkt Christoph Pistner ein. Simulationsrechnungen der chinesischen Forscher bestätigen dies sogar: Demnach erzeugt der Reaktor das schwere Element Neptunium und mehrere Spaltprodukte, darunter auch Iod-131. Pistners Fazit: «Thorium ändert wenig an der Endlagerproblematik.»
Das flüssige Salz reagiert aggressiv und greift die Rohrleitungen an
Auch das Flüssigsalz-Konzept soll indessen zu weniger Atommüll beitragen. Der radioaktive Abfall, der normalerweise in abgebrannten Brennstäben steckt, könnte während des Betriebs aus der Salzschmelze gefiltert und wiederaufbereitet werden. Darin enthaltene spaltbare Elemente würden als neues Brennmaterial wieder zurück in den Reaktor gespeist. Also würde ein Teil des Abfalls verbrannt. Rein theoretisch sei diese Idee «nicht verkehrt», sagt Christoph Pistner. Doch die praktische Umsetzung sei äusserst schwierig. «Die Frage nach den geeigneten Materialien für Rohre und Wandungen ist noch völlig ungeklärt», sagt er.
Hier habe der Flüssigsalzreaktor ein «gravierendes Problem», pflichtet Sören Kliem bei. Das flüssige Salz sei sehr aggressiv. Beim amerikanischen Versuchsreaktor der 1960er-Jahre hatte es die Wände der Rohrleitungen stark angegriffen. Selbst eine damals eigens entwickelte Metalllegierung widerstand der Korrosion nicht völlig. «Aber seitdem sind gut 50 Jahre vergangen, und die Materialforschung hat grosse Fortschritte gemacht», sagt Kliem. Es sei also möglich, dass sich das Problem lösen lasse.
«Wir haben schon einen Weg gefunden», behauptet David Leblanc von der kanadischen Firma Terrestrial Energy. Spätestens 2029 will das Unternehmen in Kanada einen Flüssigsalzreaktor ans Netz bringen. Das Salz an sich sei gar nicht so aggressiv, meint Leblanc. Erst Feuchtigkeit und Oxide machten es dazu. Seine Firma habe daher den Reaktorkern besonders gut gegen diese Umwelteinflüsse abgedichtet. Dennoch konzipiert die Firma dieses Bauteil als ein austauschbares Modul. Alle sieben Jahre, schätzt Leblanc, müsse ein neuer Reaktorkern eingesetzt werden.
Die Fragezeichen hinter dem Testreaktor am Rand der Wüste Gobi lassen Christoph Pistner an dessen schnellem Erfolg zweifeln: «Die Geschichte der Kernkraft hat gezeigt, dass man mit Überraschungen leben muss.»
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