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Bundesgericht kippt Aargauer Urteil
Reisende mussten wegen Corona-Meldepflicht zu Unrecht Busse bezahlen

Ein Plakat weist auf die Obligatorische Quarantaene bei der Einreise aus bestimmten Laendern, bei der Ankunft am Flughafen Zuerich, aufgenommen am Mittwoch, 5. August 2020. (KEYSTONE/Ennio Leanza)
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All die Regeln und Strafbestimmungen, die vor drei Jahren für Reisende galten, um die Ausbreitung von Covid in der Schweiz einzudämmen, sind diesen Herbst längst vergessen. Damals war nach einem entspannten Frühsommer die Angst gross, dass Coronaviren aus dem Ausland eingeschleppt werden. Der Bundesrat verfügte deshalb im Juli 2020, dass alle Reisenden für zehn Tage in Quarantäne müssen, die aus einem sogenannten Risikogebiet in die Schweiz heimkehren.

Damit die Kantone das auch kontrollieren konnten, gab es eine Meldepflicht: Wer aus einem Covid-Hotspot einreiste, musste das innerhalb von zwei Tagen der zuständigen kantonalen Behörde melden.

Behörden holten sich Daten der Airlines

Es dauerte nur ein paar Wochen, bis nicht weniger als 45 Länder auf der Risikoliste des Bundesamts für Gesundheit (BAG) standen – Serbien, Schweden, Spanien und viele mehr. Der Zürcher Sicherheitsdirektor Mario Fehr wiederum fand, es genüge nicht, nur auf die Ehrlichkeit der Rückkehrer zu vertrauen. Er beschaffte sich darum die Corona-Formulare, welche die Passagiere im Flieger ausfüllen mussten, direkt bei den Fluggesellschaften, um sie ans Contact-Tracing weiterzuleiten. Erst andere Kantone und bald auch der Bund fanden dieses Vorgehen so clever, dass daraus Mitte August eine landesweite Praxis wurde.

Beflissen wertete der kantonsärztliche Dienst im Kanton Aargau die Excel-Listen der Airlines aus: Nicht weniger als 570 Reisende zeigte dieser innert dreier Monate wegen Verletzung der Meldepflicht an, wie die «Aargauer Zeitung» damals berichtete. Doch die Kantonsärztin schoss übers Ziel hinaus: Bei 256 von 309 Anzeigen verzichtete die kantonale Staatsanwaltschaft auf eine Strafverfolgung. Das waren nicht weniger als 82 Prozent jener Fälle, die sie in dieser Zeit abgearbeitet hat.

Selbst Babys angezeigt

Unter den 256 Reisenden, die zu Unrecht verzeigt wurden, waren 2 Babys, die noch gar nicht strafmündig waren. 3 andere Passagiere hatten eine Anzeige am Hals, obwohl sie sich bei den Behörden gemeldet hatten oder aus beruflichen Gründen von der Quarantäne befreit waren (was sie hinterher mit E-Mails oder Telefonprotokollen beweisen konnten). Der grösste Teil der Reisenden, die zu Unrecht belangt wurden, war laut dem Medienbericht nur zur Durchreise im Risikoland. Und das war damals nicht strafbar.

Eine heute 54-jährige Aargauerin war eine der Reisenden, die wegen Verletzung der Corona-Meldepflicht eine Busse von 500 Franken plus eine Gebühr in gleicher Höhe bezahlen sollten. Die Frau war am 14. September 2020 aus Kroatien heimgekehrt. Speziell daran: Der Bund hat Kroatien erst kurz vor ihrem Rückflug als Risikoland eingestuft.

Die Frau fühlte sich zu Unrecht schikaniert. Sie wehrte sich erst vor dem Bezirksgericht Zofingen und dann vor dem kantonalen Obergericht gegen die Busse. Ohne Erfolg: Neben den 1000 Franken blieben auch noch Verfahrenskosten von über 2800 Franken an ihr hängen.

Die grosse Streitfrage im Verfahren war, ob die Kroatien-Reisende überhaupt gegen die Meldepflicht verstossen hatte. Die Frau argumentierte, sie habe im Flugzeug eine Kontaktkarte mit offiziellem BAG-Emblem ausgefüllt. Ihre Daten seien dann via Kantonspolizei Zürich zum zuständigen Contact-Tracing gelangt, womit sie indirekt die verlangte Meldepflicht erfüllt habe. Eine Bestrafung sei deshalb unnötig.

Hoher Anspruch an Reisende

Die Aargauer Gerichte stellten sich dagegen auf den Standpunkt, dass die BAG-Formulare einen anderen Zweck gehabt hätten: die Passagiere zu kontaktieren, wenn jemand an Bord oder nach der Landung erkranke. Zudem stellte das Obergericht hohe Ansprüche an die Reisenden: Die Quarantänepflicht sei breit in den Medien diskutiert worden. Das Gericht erwartete deshalb von der Frau, dass sie sich über weitere Pflichten wegen der Covid-Pandemie vergewissere, «selbst wenn Kroatien bei der Abreise der Beschwerdeführerin noch nicht als Risikogebiet eingestuft worden ist».

Das Bundesgericht sieht den Fall jetzt ganz anders. Es ortet die Versäumnisse auch anderswo, wie aus dem kürzlich publizierten Urteil hervorgeht. An welche kantonale Behörde mussten sich Reisende überhaupt wenden? Über welchen Kanal mussten sie sich melden? Und welche exakten Angaben zur Einreise waren überhaupt gefragt? All das war in der bundesrätlichen Covid19-Verordnung nicht geregelt.

Eine Karte hat gereicht

Die Kroatien-Reisende wiederum hatte schon in der ersten polizeilichen Befragung gesagt, sie habe im Flugzeug ein Formular ausgefüllt: «Ich habe gedacht, damit wüssten alle Bescheid.» Nach Ansicht des Bundesgerichts hat sie damit ihre Meldepflicht erfüllt. Denn die Kontaktkarte habe ab dem 8. August den gleichen Zweck erfüllt wie die bundesrätliche Covid-Verordnung: die rasche Überprüfung, ob Reisende aus Covid-19-Risikogebieten die Quarantänepflicht einhielten. Der 54-Jährigen könne deshalb nicht vorgeworfen werden – wie das die Aargauer Gerichte getan haben –, sie habe gegen das Epidemiengesetz verstossen.

«Wer damals brav gezahlt hat, ist jetzt der Dumme.»

Konrad Jeker, Rechtsanwalt

Das Bundesgericht hebt deshalb den bundesrechtswidrigen Schuldspruch für die Frau auf. Zudem spricht es ihr eine Entschädigung von 3000 Franken aus der Aargauer Staatskasse zu.

Entsprechend zufrieden über das Urteil ist der Solothurner Anwalt Konrad Jeker, der die Frau vertreten hat. Schade findet er einzig, dass «sich das Bundesgericht sehr am Einzelfall orientiert und die damalige Regelung nicht grundsätzlich kassiert». Anderen Betroffenen, die damals eine Busse zahlen mussten, wird das Urteil so oder so nicht mehr helfen. «In der Schweiz ist es leider so, dass man in so einem Fall rechtskräftig verurteilt bleibt», sagt Jeker. «Wer damals brav gezahlt hat, ist jetzt der Dumme.»

Urteil 6B_864/2022