Prognose für 2021: 15’000 AsylanträgeBund erwartet mehr Flüchtlinge
Das Staatssekretariat für Migration rechnet ab 2022 mit einer kontinuierlichen Zunahme der Anzahl Flüchtlinge, die nach Westeuropa kommen. Zustände wie 2015 seien jedoch nicht in Sicht.
In Europa besteht die Sorge, dass sich nach dem Abflauen der Corona-Pandemie die Zahl der Migranten sprunghaft erhöhen könnte. Auf der zentralen Mittelmeerroute hat sich im Juni die Zahl der Flüchtlinge im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt, und auf den Kanarischen Inseln landeten in den ersten sechs Monaten dieses Jahres 6952 Menschen. Das sind fast doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum 2020.
Dazu kommen neue Migrationswege. Der weissrussische Machthaber Alexander Lukaschenko lässt Flüchtlinge über die litauische Grenze in die EU einschleusen. Beobachter werten dies als Reaktion auf Sanktionen gegen Belarus. Litauen reagiert mit dem Bau eines Grenzzauns.
Wie beurteilen die Schweizer Migrationszuständigen die aktuelle Lage? Das Staatssekretariat für Migration (SEM) rechnet in den nächsten Monaten und Jahren mit einer «mehr oder weniger kontinuierlichen» Zunahme der Asylgesuchszahlen in der Schweiz. Dies vor dem Hintergrund, dass die Asylgesuche und die Migrationsbewegungen in den vergangenen 18 Monaten auf einem historischen Tiefstand lagen.
Für das laufende Jahr geht das SEM von rund 15’000 Asylanträgen aus. Die Unschärfe dieser Prognose bewegt sich nach Auskunft von SEM-Sprecher Lukas Rieder bei 1500 Personen. Es könnten also Ende Jahr 13’500 Anträge sein oder auch 16’500.
Weit entfernt von der Krise 2015
«Nach heutigem Kenntnisstand ist ein Wert von über 25’000 Gesuchen mittelfristig sehr wenig wahrscheinlich», sagt Rieder. Damit wird die Schweiz nach Prognosen des Staatssekretariats für Migration in absehbarer Zeit kaum mit Zahlen wie in der Zeitspanne 2015/2016 konfrontiert, als gegen 40’000 Flüchtlinge in der Schweiz einen Asylantrag stellten.
Nach der Corona-Krise, die mit geschlossenen Grenzen und einem Totaleinbruch der Reisebewegungen einherging, sieht das SEM einen gewissen «Nachholeffekt» bei der Migration. «Wegen der weltweit eingeschränkten Reisemöglichkeiten kam es entlang der bekannten Migrationsrouten jedoch zu keinen grösseren Rückstaus an einzelnen Orten», sagt Rieder.
Sollte die Pandemie eines Tages überwunden sein und sollten die Covid-19-Massnahmen auch in den Herkunftsländern von Flüchtlingen und entlang der Migrationsrouten wegfallen, sei eine Zunahme der Migration wahrscheinlich, schätzt Rieder.
Covid-19 hat gemäss SEM-Beobachtungen in vielen Herkunftsländern von Flüchtlingen die vorher schon angespannte wirtschaftliche Lage weiter verschlechtert. «Damit steigt der Abwanderungsdruck», sagt Rieder. Zu erwarten sei, dass es in einzelnen Staaten wegen der schlechten ökonomischen Lage zu gesellschaftlichen Unruhen komme, was den Abwanderungsdruck ebenfalls weiter verstärke.
«Die Migrationsströme damals waren mit einer Kombination ganz besonderer politischer, militärischer und geografischer Gegebenheiten verknüpft.»
Die Voraussetzungen für rasch emporschnellende Migrationszahlen wie in den Jahren 2015 und 2016 erachtet das Staatsskretariat für Migration heute jedoch als nicht gegeben. «Die Migrationsströme damals waren mit einer Kombination ganz besonderer politischer, militärischer und geografischer Gegebenheiten verknüpft», sagt Rieder.
Zu den besonderen Ursachen der Flucht von über zwei Millionen Menschen nach Zentraleuropa, die Rieder anspricht, gehörten 2015 und 2016 der Bürgerkrieg in Syrien, das Vorrücken der Taliban im Afghanistan-Krieg, aber auch der IS-Terrororganisation im Irak und in Syrien.
Hinzu kamen Konflikte und humanitäre Krisen in Somalia, im Sudan, in Eritrea und Nigeria, der Krieg in der Ukraine seit 2014 sowie Armut und Arbeitslosigkeit in Westbalkan-Staaten. Der Zerfall Libyens und die zeitweise Aussetzung der Dublin-Regeln innerhalb der EU trugen ebenfalls zur Migrationskrise in jenen Jahren bei.
Heute sagt Rieder: «Eine Wiederholung der damaligen Umstände in anderen geografischen Gebieten ist unwahrscheinlich.» Zudem ist gemäss SEM die logistische Unterstützung für vergleichbar zahlreiche Überfahrten von Nordafrika nach Italien heute nicht vorhanden. Die Rede ist von Booten und sicheren Häfen.
Von der Türkei nach Griechenland
Die Migration aus der Türkei nach Griechenland ist nach SEM-Angaben weiterhin auf tiefem Niveau. Im Juli landeten bisher (Stand: 18.07.) 130 Personen auf den griechischen Inseln. Im Juni 2021 waren es 80 Personen. An der Landgrenze zur Türkei wurden im gleichen Zeitraum rund 160 Personen bei der Einreise festgestellt, im Juni waren es 530. Derzeit halten sich mit Erfassungsdatum 11. Juli in den ehemaligen Hotspots auf den Inseln 6960 Flüchtlinge und Migranten auf.
Seit Anfang Jahr wurden rund 9880 Personen von den Inseln auf das griechische Festland transferiert. Im Juni waren es 3330, im Juli bisher 510 Transfers. In den kommenden Wochen dürfte die irreguläre Migration in Richtung griechische Inseln witterungsbedingt zunehmen, erwartet das SEM. Ein erneutes Öffnen der Grenzen zu Griechenland durch die türkische Führung sei zurzeit wenig wahrscheinlich.
Balkanroute
Die Zahlen polizeilich angehaltener Personen, die irregulär in Länder entlang der Balkanroute kamen, lagen von Dezember 2020 bis Anfang Juli 2021 bei weniger als 2000 Personen pro Woche. Seither steige die Zahl kontinuierlich an, sagt das SEM, habe aber die Höchstwerte von Sommer und Herbst 2020 mit über 4000 pro Woche noch «bei weitem nicht erreicht».
Italien
Im Juli 2021 (Stand 27.7.) landeten bislang 6940 Migranten an. Im Juni waren es 5840. Wichtigste Migrationsroute ist im Juli bisher jene aus Tunesien. Zweitwichtigster Abfahrtsort ist Libyen. Bisher kamen bis und mit 27. Juli 27’470 Menschen in Italien an. Hauptherkunftsländer der bisher in diesem Jahr in Italien angelandeten Personen waren: Tunesien (5830), Bangladesh (4180) und Ägypten (2290). In den nächsten Wochen dürften die Anlandungen in Italien und Spanien saisonal bedingt hoch bleiben oder weiter zunehmen, prognostiziert das SEM.
Europa
Seit Juli 2020 werden in Europa rund 9000 Asylgesuche pro Woche gestellt, 6000 weniger als vor Beginn der Covid-19-Pandemie. Nach einem Rückgang auf rund 5000 Asylgesuche gegen Ende 2020 liegt die Zahl der wöchentlichen Gesuche seit Anfang 2021 wieder bei circa 9000.
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