Bildungsdemo in Zürich«Nicht wir sind das Problem, sondern das Bildungssystem»
Kleinere Klassen, mehr Zeit für den Unterricht und weniger Administration: Rund 1500 Lehrerinnen und Lehrer haben in Zürich ihre Forderungen auf die Strasse getragen.
Das Kollektiv Kritische Lehrpersonen – kurz Krilp – hat am Samstag zur Demonstration «Für das Recht auf gute Bildungsbedingungen» gerufen. Mehrere Hundert Menschen sind dem Aufruf gefolgt und haben sich gegen 14 Uhr auf dem Helvetiaplatz versammelt.
Während zweienhalb Stunden zog der Tross anschliessend mit lauter Musik und Gesang durch Zürich. Dabei schlossen sich immer mehr Menschen an. Rund 1500 Personen waren es gemäss Schätzung eines Polizeibeamten am Ende. Die Organisatoren gingen sogar von 3000 Teilnehmenden aus. Dass so viele Menschen teilnehmen würde, überraschte selbst das Kollektiv. «Vor allem bei dem Wetter», sagt ein Mitglied.
Die Demonstration ist friedlich verlaufen und endete um 17 Uhr mit einer Schlusskundgebung auf dem Helvetiaplatz.
Unter den Teilnehmenden herrschte eine fast schon familiäre Stimmung. Viele kannten sich und haben im Berufsalltag mit denselben Problemen zu kämpfen. Die Demonstrierenden setzten sich aus allen Altersklassen zusammen. Auf Plakaten und Fahnen trugen sie ihre Botschaften durch die Strassen und skandierten lautstark «Nöd mir sind s Problem, sondern s Bildigssystem!»
Mehr Zeit für die Betreuung
Bereits beim Start der Kundgebung auf dem Helvetiaplatz haben Mitglieder des Kollektivs flammende Reden für mehr Zeit für den Unterricht und die Betreuung der Schülerinnen und Schüler gehalten.
Das Thema Integration kam ebenfalls aufs Tapet. «Man kann nicht nur in marktkonforme Normkinder investieren. Inklusion ist kein Kostenfaktor, sondern ein Menschenrecht», sagte eine Rednerin.
Sogar ein kleines Theaterstück wird auf dem Platz inszeniert. «Ich unterrichte 28 Erstklässlerinnen und Erstklässlern. Einige von ihnen können nicht einmal die Schuhe selber binden. Könnt ihr mir helfen?», fragt eine Demonstrierende zwei andere, die Masken von Bildungsdirektorin Silvia Steiner und Filippo Leutenegger, Vorsteher des Stadtzürcher Schul- und Sportdepartements, tragen. Die beiden geben ausweichende Antworten – aber keine Hilfe.
Nachhaltige Lösungen gefordert
Die Belastung im Schulalltag sei in den letzten Jahren konstant gestiegen, schreibt das Kollektiv beim Aufruf zur heutigen Demonstration auf seiner Website. «Wir alle bekommen das Versagen der Bildungspolitik täglich zu spüren.»
Lehrpersonen würden krankheitshalber ausfallen. Wer könne, reduziere das Pensum, um ein Burn-out zu vermeiden. Stellvertretungen seien Jahr für Jahr schwieriger zu finden, und der häufige Wechsel von Bezugspersonen an Schulen sei auch für die Kinder belastend.
Aus diesen Gründen fordert Krilp unter anderem kleinere Klassen auf allen Stufen, mehr Zeit für den Unterricht und Entlastung bei den administrativen Arbeiten, mehr ausgebildetes Personal sowie kindgerechte Räume und Schulzeiten. «Wir brauchen keine Symptombekämpfung, sondern nachhaltige Lösungen und einen Systemwandel», so der Tenor.
Die Teilnehmenden haben ganz konkrete Vorschläge, was sich ändern sollte. «Ich würde die Ausbildung für den Lehrberuf praxisorientierter gestalten», sagt die 33-jährige Primarlehrerin Sophie Schmidt. Ihre Arbeitskollegin Natascha Hossli pflichtet ihr bei. «Sowohl Beruf als auch Ausbildung müssen attraktiver werden, damit sich mehr Menschen für diesen Job entscheiden», sagt die 30-Jährige.
Auch Andi Tschannen, der in Zürich eine 1.- Primarschulklasse unterrichtet, sieht das Hauptproblem in der Ausbildung. «Sie ist akademisiert, das ist nicht hilfreich», sagt der 55-Jährige. Oft hätten Personen das Talent für den Beruf, könnten ihn aber nicht ausüben, weil sie nicht den passenden Schulabschluss hätten. «Man müsste den Schwerpunkt der Ausbildung auf die Praxis und nicht auf die Theorie legen.»
Hilfreich wäre es auch, wenn die Lehrerschaft von den Eltern «mehr Rückendeckung» erhielte, sagt der 55-jährige Kanti-Lehrer Rainer Steiger. «Sie unterstützen ihre Kinder mehr als uns, dabei wollen wir dasselbe: das Beste für die Kinder.»
Für Francesca Micelli wäre Teamteaching die beste Sofortlösung – also ein Unterricht mit mindestens zwei ausgebildeten Lehrpersonen gleichzeitig. «Und das auf allen Stufen. Auch im Kindergarten», sagt die 58-Jährige. Das würde eine grosse Entlastung bringen und vieles möglich machen.
Auch das Wort Streik war zu hören
Nach der heutigen Demonstration will die Krilp eine Arbeitsgruppe aufbauen, welche sich für die Umsetzung der Forderungen einsetzt. «Diese Demonstration ist nur der Anfang. Damit haben wir ein erstes Zeichen gesetzt», sagt ein Mitglied des Kollektivs.
Von einem Streik – auch dieses Wort ist während des Umzugs gefallen – könne aber keine Rede sein. Zumindest noch nicht. «Lehrerinnen und Lehrer dazu aufzurufen, ist schwierig. Sie haben einen Bildungsauftrag, dem sie sich verpflichtet fühlen, und das ist auch gut so.»
Wie schwierig es ist, die Lehrerschaft als Ganzes zu mobilisieren, zeigt sich auch an der Organisation der Demonstration. Neben Krilp stehen der VPOD, der Verband des Personals öffentlicher Dienste Zürich, die Kriso (Kritische Sozialarbeit) und die Trotzphase, eine Gruppe von Fachpersonen der schul- und familienergänzenden Kinderbetreuung, hinter der Protestaktion. Der Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverband (ZLV) war nicht dabei.
Die Poldis sind auch unzufrieden
Der Ruf nach Kleinklassen und nach mehr Fachpersonal ist im Kanton Zürich schon seit längerem zu hören. Die Bildungsdirektion reagiert mit der Zulassung von Lehrpersonen ohne Lehrdiplom – sogenannten Poldis – auf das Problem.
Doch auch diese Massnahme stösst an Grenzen. Poldis dürfen nur für ein Jahr eingestellt werden, obwohl derzeit weit über 100 Lehrpersonen fehlen. Die Poldis selbst sind mit den Arbeitsbedingungen unzufrieden und fordern Löhne, die zum Leben reichen.
Auch am System der integrativen Schule wird von bürgerlicher Seite Kritik geübt. Zürcher Bildungspolitikerinnen und -politiker aus FDP, GLP und SVP fordern mit ihrer Förderklasseninitiative, dass verhaltensauffällige Schülerinnen und Schüler für mindestens ein halbes Jahr in heilpädagogisch geführte Förderklassen kommen.
Die Bildungsdirektion hingegen will am Prinzip, möglichst alle Kinder in der Regelklasse zu unterrichten, festhalten und schlägt für schwierige Schülerinnen und Schüler eine Art Mini-Time-out vor. Die Kinder und Jugendlichen sollen dabei kurzfristig aus dem Klassenzimmer geschickt und von einer Lehrperson in einem anderen Raum, dem «Erweiterten Lernraum», betreut werden können.
Bildungsdirektorin Steiner hat diese Neuerung bis zum 7. Dezember in die Vernehmlassung gegeben.
Vor 20 Jahren wurde gestreikt
Trotz all dieser politischen Forderungen sind Protestaktionen der Lehrerschaft gegen Missstände im Bildungswesen im Kanton Zürich rar. Letztmals war das vor gut 20 Jahren der Fall.
Damals, im Juni 2003, wurde zum Lehrerstreik aufgerufen. Rund 6000 Volksschullehrkräfte aus 293 Schulhäusern beteiligten sich daran. Der Tag endete mit einer Schlusskundgebung auf dem Bürkliplatz in Zürich, an der sich 2500 Menschen versammelt hatten.
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