Kolumne «Fast verliebt»Ärger mit dem früheren Ich
Sie sind absolut untoxisch, supernett und tolerant? Glückwunsch! Aber waren Sie immer so? Falls nicht, passen Sie auf, dass Menschen von früher Sie nicht anklagen.
Was einem meiner Freunde passiert ist, klingt wie der Beginn eines Horrorfilms. Um das zu verstehen, müssen Sie aber erst wissen, wie mein Kollege ist. Nämlich: ein sehr feiner Kerl. Gehörst du zu seinem inneren Kreis, ist er für dich da, kategorisch und immer. Bist du seine Mutter, besucht er dich täglich im Altersheim. Als Sohn benennst du dein eigenes Kind nach ihm, weil es ruhig werden darf wie er, dein Papi.
Mein Kollege sät Liebe. Und erntet sie. Dann bekommt er eine seltsame Mail von einer unbekannten Adresse.
«Du erinnerst dich sicher an mich?», steht da: «Ich bin diejenige, die du in der Schulzeit über Jahre hinweg gemobbt hast! Na, dämmert es langsam?» Sie sagt, sein Verhalten sei «demütigend» gewesen, vor allem sein «unehrlicher Liebesbrief», als sie 13 waren. Sie sei auf seinen «Streich» reingefallen, weil sie an das Gute im Menschen geglaubt habe. Er sei «ein richtiges Arschloch» gewesen.
Mein Kollege hat keine Ahnung, wovon die Frau redet. Er fragt nach, wer sie sei, er erkenne ihren Nachnamen nicht – aber jetzt schweigt der Geist.
«Ist man der, der man zu sein glaubt, oder der, für den andere einen halten?»
«Was hast du getan?», frage ich, als wir in einer Cocktailbar sitzen. «Das ist es ja», antwortet er: «Ich erinnere mich an keinen Brief.» Und weil ich das, was ihm da vorgeworfen wird, nicht mit seiner Person in Einklang bringe und weil ich Geistergeschichten liebe, die den Verstand durcheinanderbringen, steigere ich mich rein.
«Ist man der, der man zu sein glaubt, oder der, für den andere einen halten?», frage ich beim zweiten Cocktail. Beim dritten interessiert mich die Frage, wie ich selbst einmal war. Damals auf dem Pausenplatz. Könnte auch mir jemand, den ich vergessen habe, eine Mail voller Vorwürfe und verspäteter Beleidigungen schicken?
Und wie ist das bei Ihnen?
Vor ein paar Jahren redete ich mit einer Freundin über unsere Verflossenen. Ich bereute, zu meinem ersten Freund in der Trennungsphase nicht netter gewesen zu sein. «Findest du, ich sollte mich entschuldigen?», fragte ich, aber sie lachte mich aus: «Ach komm, das ist doch längst verjährt.» Der sei heute glücklich verheiratet mit einer tollen Frau und verschwende keinen Gedanken mehr an mich. «Wenn du trotzdem immer noch ein schlechtes Gewissen hast, überweis lieber einen Betrag x an Amnesty International und lass los», sagte sie.
Vielleicht ist das gar keine schlechte Idee, als kleines Entschuldigungsritual für alles, was die früheren Ichs mal verbrochen haben, für alles, was einen vielleicht Jahre später noch quält – oder einem aus heiterem Himmel vorwurfsvolle Mails einbringt: einmal pauschal an Amnesty International spenden. Loslassen.
Wenn wir keine Fehler machen dürften, könnten wir auch nicht wachsen. Irgendwann muss man vergeben. Sich selbst und den anderen. Das gilt auch für unredliche, frühpubertäre Liebesbriefe.
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