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Gericht stellt Verfahren ein
Berner Ermittler müssen Töfffahrer ziehen lassen

Ein Motorradfahrer liegt auf seinem Gerät in die Kurve: Die Strasse zum Gurnigelpass ist bei Töfffahrern und Töfffahrerinnen beliebt.
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Der Töfffahrer war ziemlich schnell. Mal raste er mit 160 Sachen hinauf zum Gurnigel, mal bretterte er mit Tempo 174 über den Schallenberg.

Festgehalten wurden diese Fahrten in Videoaufnahmen, die mit einer Go-Pro-Kamera gemacht wurden. Diese kleinen Kameras können etwa auf einen Töff oder einen Helm montiert werden.

Die Videos wurden zunächst im Internet veröffentlicht. Das weckte die Aufmerksamkeit der Berner Strafverfolgungsbehörden. Diese stiessen schliesslich bei einer Hausdurchsuchung auf einen Datenträger mit den Videodateien.

Am Montagmorgen musste sich der Mann, der auf diesen Videos zu sehen sein soll, vor dem Regionalgericht Bern-Mittelland verantworten.

Doch so schnell, wie er womöglich fährt, so schnell konnte der 31-jährige Mann aus der Region Bern das Berner Amthaus wieder verlassen. Nach anderthalb Stunden war er ein freier Mann. Wie kam es so weit?

Der Vorwurf

Die Anklageschrift ist 22 Seiten lang. Rund 30 Fahrten werden darin beschrieben, die meisten davon sollen auf der Passstrasse zum Gurnigel im Gantrischgebiet stattgefunden haben. Sie werden – mit Bezug auf die Dateinamen der sichergestellten Videos – sehr detailliert beschrieben.

Immer wieder sei der Beschuldigte deutlich zu schnell unterwegs gewesen, innerorts wie ausserorts. Er habe den Abstand zu anderen Fahrzeugen nicht eingehalten, habe gefährlich überholt oder sei gar nur auf dem Hinterrad gefahren – solche Manöver werden «Wheelie» genannt. Damit sei der Mann «ein hohes Risiko eines Unfalls mit Schwerverletzten oder Toten» eingegangen, heisst es in der Anklageschrift.

Als Tatzeit wird für die meisten Fälle der Zeitraum zwischen dem 1. Januar 2019 und dem 12. Oktober 2020 angegeben. In einigen Fällen ist die Zeitspanne enger gefasst.

Der Antrag

Der Beschuldigte wird von Rechtsanwalt Roger Lerf aus Belp verteidigt. Lerf forderte gleich am Anfang des Prozesses, das Verfahren sei einzustellen. «Wenn die Anklageschrift zu wenig Fleisch am Knochen hat, kann man das auch zugeben.»

Beispielsweise könne es nicht sein, dass das Gericht kurz vor der Hauptverhandlung noch Informationen zu Fahrzeughaltern einholen müsse – denn das sei die Basis der Anklageschrift. Sein Fazit: «Es ist einiges nicht korrekt gelaufen.»

Die Tür zum Gerichtssaal ist geschlossen.

Selbst Gerichtspräsident Peter Müller hatte zu Beginn der Verhandlung auf Fehler in der Anklage aufmerksam gemacht. Er nannte etwa ein falsches Autokennzeichen und falsch angegebene Zeiträume.

Staatsanwalt Jaeger hielt an der Anklageschrift – die von einer anderen Staatsanwältin verfasst wurde – fest. «Die ist aus meiner Sicht genügend.»

Die Entscheidung

Das Gericht aber hiess Lerfs Antrag gut. Das Verfahren wird eingestellt. Eine Anklageschrift müsse kurz, aber präzis sein, sagt Gerichtspräsident Müller. Sie müsse grundlegende Elemente beinhalten: den Tatort, die Tatzeit und die Tat, die dem Beschuldigten vorgeworfen werde.

In der vorliegenden Anklageschrift sei der Tatzeitraum aber «extrem weit» gefasst. In einigen Fällen könnten die zeitlichen Angaben allein von der Vegetation her nicht stimmen.

Und wie Müllers Erkundigungen ergaben, war der Beschuldigte in einem bestimmten Zeitraum gar nicht als Halter eines Motorrads der Marke Ducati registriert, das auf den Videos offenbar zu sehen ist.

Das Gericht kam zum Schluss, dass es der Verteidigung nicht zuzumuten sei, sich auf Grundlage einer solchen Anklageschrift vorbereiten zu müssen. «Es kann nicht sein, dass sie erst im Urteil erfährt, wann genau die Taten stattgefunden haben sollen.»

Die Verteidigung

Anwalt Lerf schien selbst etwas überrascht vom Entscheid. «So etwas habe ich noch nie erlebt», sagte er nach der Verhandlung. Werde ein Verfahren eingestellt, dann meistens durch die Staatsanwaltschaft, wenn diese selbst keinen hinreichenden Tatverdacht habe erhärten können.

Die Anklage habe unter anderem auf drei Indizien beruht. Erstens auf dem Fundort der Speicherkarte beim Beschuldigten, zweitens auf Bildern vom Töff, auf dem ein Kleber für eine Kameraeinrichtung zu sehen sei, drittens auf einer Whatsapp-Gruppe namens «Töfffreunde», zu der der Beschuldigte gehört habe. «Das war einfach zu wenig», so Lerf.

Anwalt Roger Lerf (hier 2021): «So etwas habe ich noch nie erlebt.»

Sein Mandant, der mutmassliche Raser, nahm den Entscheid ohne grosse Emotionen entgegen. Den Fahrausweis hat er schon länger wieder in der Tasche.

Im Gegensatz zu ihm sind laut Lerf mehrere Töfffahrer, die auf den Videoaufnahmen zu sehen sind, rechtskräftig verurteilt worden, sowohl zu Geld- wie auch zu bedingten Haftstrafen.

Die Ermittler

Die Entscheidung des Gerichts ist eine herbe Niederlage für die Staatsanwaltschaft. Christoph Jaeger wollte danach keine Fragen beantworten und verschwand rasch in den frisch sanierten Räumlichkeiten des Amthauses.

Die Medienstelle der Generalstaatsanwaltschaft schrieb am Nachmittag, dass die Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss Beschwerde führen werde. Aus diesem Grund werde sie sich zu weiteren Fragen nicht äussern.

Offen bleibt somit auch, weshalb sich die Staatsanwaltschaft nicht auf die Metadaten der Videodateien stützte, aus denen die genauen Aufnahmedaten klar hervorgehen müssten. Stattdessen berief sie sich auf ein Gutachten des kantonalen Tiefbauamts.

In diesem Zusammenhang lässt schliesslich eine Aussage von Verteidiger Lerf aufhorchen. Er zitierte im Gericht einen Mitarbeiter des Kriminaltechnischen Diensts der Kantonspolizei Bern, der an den Ermittlungen beteiligt war. Dieser habe gesagt, er sei «technisch zu wenig versiert», um aus den Metadaten der Videodateien das Aufnahmedatum zu eruieren.

Die Kantonspolizei nahm bis Montagabend keine Stellung dazu.