Stille Stunde im SupermarktKein Herz für Autistinnen und Autisten
Während sich Supermärkte und Flughäfen im EU-Raum immer mehr auf Menschen mit besonderen Bedürfnissen einstellen, ist die Schweiz stark im Hintertreffen.
Gedimmtes Licht, keine Musik und keine lauten Durchsagen, nur gedämpfte Gespräche zwischen den Regalen, die während einer gewissen Zeit nicht neu bestückt werden: Die Rede ist von der sogenannten Stillen Stunde. In einem fixen Zeitraum pro Woche oder pro Monat sollen so Menschen mit Autismus oder anderen nicht sichtbaren Einschränkungen wie etwa Long Covid, die besonders anfällig für Reize sind, den Einkauf im Supermarkt als angenehm erleben.
Regelmässig gibt es neue Meldungen über Supermärkte in Deutschland oder anderen europäischen Ländern, welche die Stille Stunde neu anbieten. Lidl in Irland beispielsweise hat diese in allen Filialen fix eingeführt, oder Carrefour in Belgien bietet sie täglich zwischen 14 und 16 Uhr an.
Schweizer Detailhandel wehrt sich
In der Schweiz gibt es die Stille Stunde erst in den 13 Spar-Filialen von Franchisenehmer Hans Ruedi Schnellmann in den Kantonen Zürich und Aargau. Dafür wird jeweils für rund zwei Stunden zweimal pro Woche auch eine zusätzliche Kasse geöffnet, um Stresssituationen bei der Bezahlung zu vermeiden. Schnellmann ist von der Massnahme überzeugt: «Viele Kollegen fragen mich, ob ich damit auch mehr Umsatz machen würde. Ich mache sicher nicht weniger Umsatz, doch darum geht es gar nicht.»
Es gehe darum, so Schnellmann, Menschen, die in gewissen Bereichen ausgeschlossen seien, die Möglichkeit zu geben, gleichwertig am Leben teilzunehmen. Auch die Angestellten wüssten die etwas ruhigeren Stunden inzwischen zu schätzen, und dank guter Planung führe die Stille Stunde auch nicht zu einem Arbeitsstau.
Auch Coop hatte angekündigt, die Stille Stunde im Rahmen eines Pilotprojekts testen zu wollen, dazu kam es aber nie. Zu diesem Entscheid hätten diverse interne Überlegungen geführt, «die im grösseren Kontext des Themas Inklusion angestellt wurden», teilt der Detailhändler auf Nachfrage mit. Konkreter wird Coop nicht. Auch andere Detailhändler teilen mit, derzeit keine Stille Stunde geplant zu haben.
100’000 bis 250’000 Menschen, also rund 1 bis 3 Prozent der Gesamtbevölkerung, können gemäss Schätzung des Vereins Autismus Schweiz hierzulande dem Autismus-Spektrum zugerechnet werden. Der Entscheid von Coop spiegle leider die generelle Haltung im Schweizer Detailhandel, sagt Regula Buehler, die Geschäftsleiterin des Vereins. «Das Interesse, sich als Händler auf das Angebot einzulassen, ist bislang sehr gering, und einige Leute vertreten die Ansicht, unsere Mitglieder könnten ja einfach ihre Lebensmittel in einem Webshop einkaufen, da störe sie auch niemand dabei.»
Diese Haltung sei unverständlich, da auch Menschen mit Autismus ein grosses Bedürfnis hätten, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Buehler kenne viele Leute, die es nicht schafften, im Normalbetrieb einzukaufen, da die vielen Reize sie überforderten und grossen Stress und anschliessende Erschöpfung auslösen würden.
Flughafen Genf als Pionier
Dabei wüssten nicht nur Menschen mit speziellen Bedürfnissen, sondern auch andere Kundinnen und Kunden, die einmal kurz den Alltagsstress hinter sich lassen wollten, den Einkauf während der Stillen Stunden sehr zu schätzen. «Insgesamt ist mein Eindruck, dass man in der Schweiz leider noch zu geringe Kenntnisse der Bedürfnisse von Menschen mit Autismus-Spektrum hat und deshalb zu wenig unternommen wird», sagt Buehler.
Andere Orte, die für Autistinnen und Autisten viel Stress bedeuten, sind die Flughäfen. Auch hier ist die Schweiz laut Buehler im Hintertreffen. Das europäische Ausland macht hingegen vorwärts: Immer mehr Airlines und auch Flughäfen wie der Hauptstadtflughafen BER in Berlin oder der Hamburg Airport bieten sogenannte Sunflower-Umhängebänder an.
Die Bänder mit den aufgedruckten Sonnenblumen haben sich international als Symbol für Menschen mit nicht sichtbaren Beeinträchtigungen durchgesetzt. «Die Mitarbeitenden vor Ort werden entsprechend geschult, damit sie wissen, dass Personen, die ein solches Band tragen, spezielle Bedürfnisse etwa im Bereich der Kommunikation, Interaktion und Reizüberflutung haben», erklärt Regula Buehler.
Fragen an die Träger des Symbols sollten deshalb einfach formuliert werden. Und mit der Möglichkeit, mit Ja oder Nein zu antworten. Der grösste Schweizer Flughafen Zürich habe sich bislang leider nicht auf das Projekt eingelassen. Wieso dies so ist, beantwortet der Flughafen auf Anfrage nicht. Nur dass Passagiere, die Unterstützung brauchen würden, der entsprechende Assistance-Service kostenlos zur Verfügung stehe. Dieser Service könne auch von Menschen mit nicht sichtbaren Beeinträchtigungen beansprucht werden.
Anders macht es der Flughafen Genf. Dort seien die Umhängebändel Ende 2023 eingeführt und bereits von 500 Personen genutzt worden, teilt ein Sprecher mit.
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