Lee «Scratch» PerryCabaret Voltaire widmet dem jamaikanischen König eine Ausstellung
Zum ersten Mal zeigt eine europäische Kulturinstitution eine Einzelausstellung über den verstorbenen Künstler, der Bob Marleys Karriere entscheidend prägte. Eine besondere Ära der Musikgeschichte endet damit.
Kurz bevor das Auto in die Garageneinfahrt des stolzen Einfamilienhauses oberhalb von Einsiedeln einbiegt, muss der Fahrer abrupt bremsen. «Achtung, da liegt Kunst am Boden!», ruft die Person auf dem Beifahrersitz und deutet auf einen Steinhaufen, in dem etwas funkelt. Die Person auf der Rückbank sagt im Scherz: «Fast hättest du ein paar Hunderttausend Franken überfahren». Das Auto parkiert etwas abseits, die vierköpfige Gruppe steigt aus.
Der Dialog wird sich in den kommenden Stunden so ähnlich wiederholen. Die Aufgabe der Leute aus Zürich: Kunstwerke aus Lee «Scratch» Perrys ehemaligem, beinahe leer geräumtem Musikstudio am Rand der Schwyzer Gemeinde abzuholen. Und zwischen Kunst, Spielfiguren und zufällig herumliegenden Gegenständen zu unterscheiden. Mit dem Zürcher Cabaret Voltaire widmet erstmals eine Kulturinstitution in Europa Perrys Kunst eine Einzelausstellung. Doch einfach scheint die Aufgabe nicht zu sein.
Sie erfordert aus zwei Gründen besondere Aufmerksamkeit: Erstens markiert das, was hier leer geräumt wird, das Ende einer Ära. Lee Perry verstarb im Jahr 2021 85-jährig. Zweitens war Lee Perry, man darf das so sagen, eine Legende. Anfang der 1970er-Jahre war der Jamaikaner Mentor und Produzent von Bob Marley und hat die Musikgeschichte im 20. Jahrhundert durch seine Innovationen (Dub und Reggae) mitgeprägt. Kein Wunder, verehren ihn weltweit Musikerinnen und Musiker: Keith Richards, Paul McCartney, das Elektroquartett The Prodigy oder die Beastie Boys haben ihn als Inspiration genannt.
Perrys Innovation bestand im Wesentlichen darin, dass er die gängigen Gepflogenheiten der damaligen Studiotechnik bis zum Äussersten ausreizte. Die Reggae-Stücke zerlegte er in ihre Einzelteile, die einzelnen Spuren verfremdete er mit Echo und Hall. Sein Studio machte er so zum Instrument – und zu einem magischen Ort. Manchmal vergrub er in einer Art schamanischem Ritual die Aufnahmen in seinem Garten und überschüttete sie mit Blut und Whisky.
Perrys Errungenschaft: Dub
Was auch immer welchen Einfluss hatte, das Ergebnis war Dub: eine extrem atmosphärische, basslastige und von Hall durchwirkte Musik, die tatsächlich ein wenig nach Geisterbeschwörung klingt, aber auch die tanzbaren Elemente des Reggae beinhaltet. Oder wie es ein Zürcher Journalist, der Perrys Studio in den 1990ern besuchte, im Magazin des «Tages-Anzeigers» schrieb: «Aus kompakten Songs werden weit aufgespannte, zerlöcherte Fischernetze, durch die die Sonne scheint.»
Perrys früheste Produktionen reichen zurück in die 1960er-Jahre: Die ehemalige englische Kolonie war wenige Jahre zuvor unabhängig geworden, und im Land erstarkte die Musikszene gleichermassen wie kriminelle Gangs. Die Religion der Rastafari verbreitete die Botschaft, dass Babylon, also die verdorbene Welt der englischen Kolonialherren, spirituell etwas entgegengesetzt werden musste.
In diesem Zusammenhang wob Lee «Scratch» Perry in seinem von Marihuana-Rauch vernebelten Studio seine musikalischen Fischernetze. Sein Black Ark Studio in Kingston, in dem auch Bob Marley aufnahm, war zu dieser Zeit der Kulminationspunkt der jamaikanischen Musikszene. Und diese Musik stand damals kurz davor, ihrerseits die Welt zu erobern.
Der Erfolg von Reggae ging einher mit Perrys Abdriften: Ende der 1970er-Jahre fackelte er sein Black Ark Studio in Kingston im Wahn ab, mit Bob Marley war er zu diesem Zeitpunkt zerstritten.
Was blieb, war sein Status als Ahnherr von Reggae, Dub und zahlreicher anderer Bassmusik, die in den Jahrzehnten nach seiner kreativen Phase folgen sollten. Weggefährten wie auch späte Epigonen sind sich einig: Perrys Einfluss auf die Musikwelt ist kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Zu Beginn der 1990er heiratete er die Schweizerin Mireille Rüegg-Campbell, eine damals bekannte ehemalige Sexstudiobetreiberin und zudem ein bekennender Reggae-Fan. Zuerst zog Perry an den Zürichsee, dann nach Einsiedeln, wo er seine Studios wieder aufbaute.
«Mein Wahnsinn ist mein Schutzschild»
Was auch blieb, war sein Status als schwer zu fassender Paradiesvogel, an dem Perry selbst arbeitete. Von sich selbst sagte er einmal: «Mein Wahnsinn ist mein Schutzschild. Das Schwert Excalibur. Das ist billiger, als bewaffnete Bodyguards anzustellen.» Haare und Bart trug er bis ins Alter bunt, seine Kleidung war von den Schuhen bis zum Hut behangen mit funkelnden Gegenständen. Journalistinnen und Journalisten, die ihn trafen, machten die Erfahrung, dass ein Interview mit Perry fast nicht möglich war. Kurzum: Perry hörte nie damit auf, aus sich und seinem Leben ein Gesamtkunstwerk zu machen.
Ein Teil davon ist im Haus in Einsiedeln noch zu sehen, als die Zürcher Delegation des Cabaret Voltaire sich Fragen zum Transport und zur Archivierung der überall im Haus herumliegenden Kunst stellt. Soll zum Beispiel die Tür zwischen Studio und Wohnung, die gänzlich mit Zeitungsausschnitten, Konzertpostern und bunten Handabdrücken verziert ist, als Ganzes zum Teil der Ausstellung werden? Und wie kann sichergestellt werden, dass die daran aufgehängten getrockneten Maiskolben oder die mit Wasser gefüllte PET-Flasche nicht herunterfallen beim Transport?
Perrys Nachbarjunge als Nachlassverwalter
Massgebend beteiligt an diesen Entscheidungen ist Lorenzo Bernet, der zusammen mit der Kunsthistorikerin Valentina Ehnimb Lee «Scratch» Perrys visuellen Nachlass verwaltet. Der Zürcher war einst Nachbarsjunge der Familie Perry in der Zürichseegemeinde Erlenbach und lernte den bunt gekleideten Jamaikaner, der zu Hause Musik machte, malte und kiffte, kennen, als er noch im Kindergarten war. Welche Bedeutung dieser spezielle Nachbar in der internationalen Musikwelt hat, ging Bernet erst viele Jahre später während eines Kunstprojekts in New York auf.
Er ist sich sicher, dass in Zukunft neben der Musik auch die Kunst von Perry an Bedeutung gewinnen wird. Deshalb sorgt er sich in Einsiedeln darum, dass die Helferinnen und Helfer die herumliegenden Gegenstände mit Bedacht behandeln. In den bemalten Gegenständen und Möbeln, die hier scheinbar beiläufig herumstehen, sieht Bernet Ähnlichkeiten zum Werk des weltberühmten Jean-Michel Basquiat. «Basquiat ist ein Schlüssel, um Lee Perrys Kunst zu verstehen.» Das mag sich etwas übetrieben anhören. Doch der New Yorker Künstler, der in den vergangenen Jahren weltweit in grossen Museen ausgestellt wurde, nannte Perry als Einfluss und hörte beim Malen dessen Lieder.
«Beide arbeiten auf eine prozesshafte Weise, es entstehen Collagen, Überlagerungen», sagt Bernet. Zu beiden Werken gehöre zudem die Auseinandersetzung mit afrikanischer Kultur, der Geschichte der Sklaverei, Science-Fiction und anderer Popkultur. Perry reiht sich damit ein in eine Ästhetik, deren Einfluss auf die heutige Kultur so gross ist, dass er beinahe unsichtbar geworden ist: den Afrofuturismus. In dessen Tradition standen auch so unterschiedliche Künstler wie Miles Davis, der Hip-Hop-Pioneer Afrika Bambaataa, der Techno-Urvater Jeff Mills, Prince, aber auch Filme wie «Black Panther» sind in diesem Zusammenhang entstanden.
Vertieft mit Afrofuturismus auseinandergesetzt hat sich Trinity Njume-Ebong, die unter dem Namen Mother Dubber an der Eröffnung der Ausstellung im Cabaret Voltaire als DJ auflegen wird. Im Gespräch erklärt die Westafrikanerin, die in London aufgewachsen ist: «Afrofuturismus ist eine Ästhetik, die unsere Vergangenheit, unsere Zukunft und unseren gegenwärtigen Zustand als vertriebene Gemeinschaft neu definiert. Die Darstellung der Schwarzen als ausgebeutete Klasse lehnt die Kunstrichtung ab. Durch Aneignung von Technologie gestaltet sie stattdessen eine emanzipatorische Zukunft.»
Lee «Scratch» Perry und Dada
Die Ausstellung im Cabaret Voltaire soll verdeutlichen, dass nicht nur Perrys Musik, sondern auch seine Malerei in dieser Tradition wertgeschätzt werden kann und soll. Salome Hohl, Direktorin und Kuratorin des Cabaret Voltaire, vergleicht Perrys Schaffen mit Dada, der Kunstbewegung, die im Haus in der Zürcher Altstadt vor mehr als 100 Jahren ihr Zentrum hatte. «Bei Dada wie auch bei Perry gibt es den Hang zum Gesamtkunstwerk – dazu gehören Musik, visuelle Kunst, Kostüme, Fundstücke, Spiritualität oder Popkultur. Und sowohl Dada als auch Perry dürfen wir in der Schweiz ruhig etwas mehr feiern», sagt Hohl. Umso mehr passe die Kunst Perrys in die Ausstellungsräume ihres Hauses.
Die Gruppe des Cabaret Voltaire ist eine Woche nach dem Besuch in Einsiedeln dabei, einen mehr als 200 Kilogramm schweren, mit Collagen und Pinselstrichen bedachten Heizungsradiator im Ausstellungsraum in Zürich aufzuhängen. Was eine Woche zuvor noch beiläufig in einer zum Studio umfunktionierten Garage in Einsiedeln hing, ist nun Teil einer Ausstellung; aus dem Gebrauchsgegenstand ist Kunst geworden. Es ist Vorsicht geboten.
«Lee Scratch Perry», Vernissage: Do 11.4., 18 Uhr, Di – So, bis 29.9., Cabare Voltaire, Spiegelgasse 1, 8001 Zürich, cabaretvoltaire.ch
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