Experten warnen vor AntiterrorgesetzAuch unbescholtene Bürger könnten als terroristische Gefährder eingestuft werden
Die Polizei soll weitgehende Befugnisse im Kampf gegen den Terror erhalten – zu weitgehende, sagt der Schweizer Jurist und UNO-Sonderberichterstatter Nils Melzer.
«Wir müssen den Terrorismus bekämpfen, aber dazu müssen wir zuerst den Gegner richtig definieren», sagt Nils Melzer. Der Zürcher Jurist weiss, was fanatische und verblendete Menschen anrichten können. Er hat bei Bombenanschlägen Kollegen verloren und fürchtete in seiner Funktion als UNO-Sonderberichterstatter für Folter auch schon mal um sein eigenes Leben.
Trotzdem kann er dem Antiterrorgesetz, das am 13. Juni zur Abstimmung gelangt, nicht viel abgewinnen: Insbesondere stört sich Melzer an der Definition von Gefährdern. Um gegen diese vorgehen zu können, soll die Polizei mehr Möglichkeiten erhalten – auch ohne Strafverfahren. Als Gefährder gilt eine Person, wenn konkrete und aktuelle Anhaltspunkte darauf hinweisen, dass sie in Zukunft eine terroristische Aktivität ausüben könnte.
Anders als das geltende Schweizer Recht setze die neue Terrorismus-Definition jedoch keinerlei Risiko einer Straftat mehr voraus, sondern sei bereits erfüllt, wenn aus politischen Gründen Furcht und Schrecken verbreitet werde, sagt Melzer: «Das ist brandgefährlich.»
Schnell im Fokus der Ermittlungsbehörden
Er veranschaulicht eine mögliche Konsequenz dieser Ausgangslage: Gerade Schweizerinnen und Schweizer würden ja dauernd versuchen, den Staat nach ihrem Gutdünken zu verändern – via Gesetze, Referenden oder Initiativen. Da werde oft auch Furcht und Schrecken verbreitet, um seinem Anliegen zum Durchbruch zu verhelfen: Die SVP etwa schürt öfter die Angst vor dem Fremden, oder die Klimaaktivisten malen das Schreckgespenst des Weltuntergangs an die Wand. Legt man das Antiterrorgesetz grosszügig aus, könnten grundsätzlich auch solche Leute als terroristische Gefährder eingestuft werden, ist Melzer überzeugt.
Der Jurist ist sich bewusst, dass die Polizei nicht sofort auf solche Politiker oder Politaktivisten losgehen würde: «Aber ich habe beobachtet, dass in vielen Staaten gerade in Krisensituationen solche schwammigen Definitionen sehr schnell sehr expansiv ausgelegt werden.» Da Terrorismus nun auch gewaltlose «Angstmache» einschliesse, könne im Prinzip jede politische Aktivität, die der Regierung missfalle, als terroristische Aktivität interpretiert werden. Zusammen mit weiteren vier UNO-Sonderberichterstattern forderte er das Parlament auf, dieses Gesetz abzulehnen.
«Damit öffnet man der Willkür Tür und Tor.»
Mit dieser Auslegung und der Warnung vor dem Antiterrorgesetz ist Melzer nicht allein. Über 60 Rechtsprofessorinnen und Rechtsprofessoren von allen Schweizer Universitäten warnten in einem ausführlichen, offenen Brief kurz vor der Schlussabstimmung im eidgenössischen Parlament die Politiker: Dieses Gesetz sei mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar. (Lesen Sie hier den vollständigen Inhalt.) Einer der Hauptunterzeichner, der Zürcher Rechtswissenschaftler Daniel Moeckli, ist auch heute noch überzeugt, dass der im Gesetz verwendete Begriff des terroristischen Gefährders viel zu unbestimmt sei: «Damit öffnet man der Willkür Tür und Tor.»
Sogar das Aussendepartement kritisierte das Gesetz
Selbst in der Bundesverwaltung gab es Zweifel: Die Direktion für Völkerrecht des Aussendepartements (EDA) taxierte den Begriff der terroristischen Aktivität als «sehr weit gefasst». Wie die «Rundschau» damals aufdeckte, warnte die Direktion vor «erheblichen Auslegungs- und Abgrenzungsproblemen». Es bestehe das Risiko einer «allzu weitgehenden Anordnung» von Massnahmen. Das zuständige Departement von Justizministerin Karin Keller-Sutter bestätigte diese Anpassungsvorschläge, wollte den Begriff des Gefährders aber nicht anders definieren. Das Gesetz sei verhältnismässig, mit Freiheitsrechten und der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar, sagte Keller-Sutter beim Abstimmungsauftakt Mitte April.
Weitere öffentliche Aktionen seitens der UNO-Sonderberichterstatter oder der Rechtsprofessoren sind derzeit zwar nicht geplant. Aber sowohl für den Fall eines Ja als auch eines Nein am 13. Juni gibt es bereits ein Angebot und eine Androhung. Die Offerte kommt von Melzer: Er würde sich nach einer Ablehnung gerne mit den zuständigen Behörden an einen Tisch setzen, um ein sachgerechtes Gesetz zu erarbeiten, das die noch wenigen Lücken in der Terrorbekämpfung tatsächlich auch schliessen könnte. Nimmt das Volk die Vorlage an, hat Menschenrechtsanwalt Philip Stolkin seinerseits auf Twitter den Gang nach Strassburg angekündigt. Denn das Gesetz verstosse mit Sicherheit gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.
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