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Anti-Frankreich-Dynamik
In Westafrika passiert gerade Historisches

Opposition supporters sing and dance during a meeting two days before the trial of one of the leaders, Ousmane Sonko, in Dakar on March 14, 2023. (Photo by JOHN WESSELS / AFP)
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Thierno Dicko steht auf dem Marktplatz von Saint-Louis, ganz im Norden Senegals, und zeigt stolz auf eine Pfütze. «Nichts ist übrig, gar nichts», sagt er. Dann grinst er. Es gibt keine Abdrücke im Boden, keine Spuren.

Es gibt kein Schild, das erklärt, dass hier bis vor kurzem die Statue eines französischen Gouverneurs aus der Kolonialzeit stand. Und natürlich steht auch nirgends, dass Thierno Dicko es war, der die Statue in einer stürmischen Nacht vom Sockel gestossen hat. Weiss ja keiner, zumindest offiziell.

Die Statue ist weg

Da, wo die Statue stand, ist an diesem schwülheissen Septembermorgen nur eine Pfütze zu sehen, in der eine leere Plastikflasche schwimmt. Gut so, findet Dicko. Wer neu anfangen will, muss mit der Vergangenheit abschliessen, endgültig.

Es freut ihn, dass dieser «revolutionäre Geist» nicht nur ihn, sondern ganz Westafrika erfasst hat. Auf dem Marktplatz von Saint-Louis, so sieht Dicko das, hat er im Kleinen geschafft, was die Putschisten in Mali oder Niger im Grossen vollbracht haben: Er hat die Kolonialzeit beendet.

Thierno Dicko in Saint-Louis.

Zweihundert Kilometer weiter südlich, in Senegals Hauptstadt Dakar, sitzt Ndongo Samba Sylla in einem hippen Café und präsentiert einen Geldschein wie ein Beweisstück. «Das», sagt er, «ist das Symbol unserer Unterwerfung.»

Der Schein ist grün und 5000 Franc CFA wert, so heisst die Währung in Senegal und in dreizehn anderen west- und zentralafrikanischen Ländern. Auf der Vorderseite ist ein Fisch abgebildet, hinten zwei Antilopen. Doch die wichtigen Informationen, findet Sylla, fehlen. Dass der Schein in Frankreich gedruckt wurde zum Beispiel. 2020 hat er ein Buch über den Franc CFA veröffentlicht. Es heisst: «Afrikas letzte koloniale Währung».

Ndongo Samba Sylla in Dakar.

In Westafrika passiert gerade Historisches, das sieht auch Sylla so. Aber Schadenfreude? Nein. Er ist Wissenschafter. Und ihm liegt ja etwas an Frankreich, an der französischen Sprache vor allem. Aber als Wissenschafter kommt er zu dem Schluss, dass Frankreich sich den ganzen Schlamassel selbst eingebrockt hat. Die Putsche, die Wut, die «Frankreich raus»-Sprechchöre. Weil Paris nicht loslassen konnte, als es Zeit gewesen wäre.

Populäre Putsche

Frankreich und Westafrika: Das sollte nach dem Kolonialismus eine besondere Bindung freier Staaten sein, so verkauften sie das zumindest in Paris. Heute ist es eher eine toxische Beziehung im Endstadium. Seit 2020 hat es in sechs ehemaligen französischen Kolonien mindestens einen erfolgreichen Militärputsch gegeben. In Mali und Guinea, in Burkina Faso und im Tschad, in Niger und Gabun.

All diese Putsche sind – aus westlicher Sicht – verblüffend populär. Vor allem jüngere Menschen sehen sie nicht als Weg ins Chaos, sondern als Chance auf einen Neubeginn. Auf einen Neubeginn ohne Frankreich. Ohne französische Soldaten, ohne französische Konzerne, ohne in Frankreich gedrucktes Geld.

French President Emmanuel Macron (C,L) and Senegalese President Macky Sall (C,R) wave to the crowd from a car in Saint-Louis on February 3, 2018, on the final day of of Macron's visit to Senegal. (Photo by ludovic MARIN / POOL / AFP)

Dass da eine Welle auf sie zurollt, hat man in Paris schon vor Jahren bemerkt. Emmanuel Macron rief 2017, ganz frisch im Amt, ein neues Kapitel der Beziehungen zu Afrika aus. Frankreich, versichert der Präsident, sehe den Kontinent nicht mehr als seinen «Hinterhof» an und wolle sich militärisch und auch sonst zurücknehmen. Doch es half nichts. Inzwischen geht auch Macron sichtlich die Demut aus.

Wenn wir uns nicht im Kampf gegen den Terrorismus engagiert hätten, sagte er kürzlich trotzig, dann gäbe es Mali, Burkina Faso und Niger wahrscheinlich nicht mehr.

Senegal hat sich bislang nicht eingereiht in den afrikanischen Putschgürtel. Doch auch hier, im bis heute französischsten aller afrikanischen Länder, gärt es. Macky Sall, der Präsident, kann gut mit dem Westen. Doch die jungen Leute laufen dem Oppositionsführer Ousmane Sonko zu, der den Bruch mit Frankreich verspricht.

Und er wird umso beliebter, je härter die Regierung gegen ihn vorgeht. Sonko wurde wegen einer mutmasslichen Vergewaltigung, die er bestreitet, ins Gefängnis gesteckt und von den Wahlen 2024 ausgeschlossen. Mehrfach kam es deshalb zu Massenprotesten und Ausschreitungen. Bevorzugtes Ziel der Randalierer waren die Supermärkte der französischen Kette Auchan.

Feldzüge ins innere Afrika

Woher kommt die Wut? Auf einer Insel in der Mündung des Senegal-Flusses gelegen, war Saint-Louis 1659 Frankreichs erste Siedlung in Westafrika. Von hier aus baute Paris sein Handelsimperium mit Kautschuk, Gold und Sklaven auf.

Von hier aus starteten später die Feldzüge ins Innere des Kontinents. Ganz vorn dabei: General Louis Léon César Faidherbe, von 1854 bis 1865 mit kurzer Unterbrechung Gouverneur Senegals. Zur Belohnung für die blutige Unterwerfung mehrerer Völker legte man ihm die Stadt zu Füssen. Bis vor ein paar Jahren schlenderten Touristen in Saint-Louis über den Pont Faidherbe, um auf der Place Faidherbe die Statue Faidherbes zu bestaunen. «Seinem Gouverneur», stand auf dem Sockel der Statue: «Der dankbare Senegal».

A man rides his bike across a street with dilapidated buildings, in Saint-Louis on October 11, 2022, a long period of political and economic decline that has left the  historic architecture and other cultural heritage sites in a state of disrepair. An intricately detailed balcony, a coat of fresh paint and large bay windows opening onto the street: this house, in Saint-Louis, northern Senegal, has regained its former glory. 
Next to it, one building has been  gutted and another is about to collapse. The house is one of several that have recently been refurbished, part of a movement to renew the face of Saint-Louis, the former colonial capital of French West Africa, which has been a UNESCO World Heritage Site since 2000. (Photo by SEYLLOU / AFP)

Bis 1902 war Saint-Louis die Hauptstadt von Französisch-Westafrika, bis 1957 die Hauptstadt Senegals. Beide Titel verlor die Stadt an Dakar. Zum Trost soll es von Charles de Gaulle das Kompliment gegeben haben, dass es «ausserhalb Frankreichs keine Stadt gibt, in der sich ein Franzose stärker zu Hause fühlt als in Saint-Louis».

Seitdem bröckeln die Kolonialbauten in tropischer Hitze vor sich hin. Viele Häuser verfallen, trotz der Ernennung der Altstadt zum Unesco-Weltkulturerbe.

Privatduell mit dem General

Thierno Dicko, ein Mann mit riesigen Händen und sanfter Stimme, wurde vor 39 Jahren in Ndar geboren, so nennen die Einheimischen Saint-Louis. Auf dem Baya Ndar, dem Platz von Ndar, der früher Place Faidherbe hiess, hat Dicko jetzt sein Handy aus der Tasche geholt.

Sein Privatduell mit dem bronzenen General lässt sich in Bildern und Screenshots am besten erzählen. Dicko ist Informatiker von Beruf und Blogger aus Berufung. 2007 fing er mit lokalen Themen an. Er machte Druck, wenn die Stadt ein Schlagloch nicht ausbesserte, er trommelte Freiwillige zusammen, um den Strand aufzuräumen. Viele Menschen lasen, was er zu sagen hatte. Auf Facebook folgen ihm fast 60’000 Menschen, in Saint-Louis mit seinen 200’000 Einwohnern ist er eine Berühmtheit.

Irgendwann landete Thierno Dicko beim Kolonialismus. Bei General Faidherbe. Dass der mitten in seiner Stadt auf einem Sockel stand, mit Mantel und Schnurrbart, lässig auf seinen Säbel gelehnt, fand Dicko schlimm genug. Aber der «dankbare Senegal»? Das macht ihn heute noch fassungslos. «Als ob es einen Grund gäbe, diesem Mörder dankbar zu sein», sagt Dicko. Er beschloss, den General zu Fall zu bringen.

This picture taken on August 9, 2018 in Saint-Louis, shows a sculpture of French general and colonial administrator Louis Faidherbe (1818-1889). (Photo by SEYLLOU / AFP)

Eine Statue zu stürzen, ist harte Arbeit. Dicko kam in der Nacht, er rüttelte und schüttelte. Nichts bewegte sich. Er brachte Freunde mit. Nichts bewegte sich. Also schüttete er weisse Farbe über den Sockel der Statue. Ein Foto davon postete er auf Facebook.

Die Gelegenheit, es noch einmal mit der grossen Lösung zu versuchen, kam am 4. September 2017. Auf dem Platz fand an dem Tag ein Fest statt, für das man auf Eisenstangen ein Zelt errichtet hatte. In der Nacht stürmte es. Dicko und zwei Freunde zerlegten das Zelt und schlugen mit den Eisenstangen auf die Statue ein. So erzählt er es. Der Lärm ging im Sturm unter. Um halb fünf am Morgen lag die Statue am Boden, Gesicht nach unten. Für das Foto auf Facebook posierte Thierno Dicko mit einem Fuss auf der Statue, die Hand zum Victory-Zeichen erhoben.

Als er zu Hause war, klingelte sein Telefon. Das Rathaus. Die Statue sei gefallen, ob er etwas wisse. Das müsse der Wind gewesen sein, sagte Dicko. Die Polizei, sagt er, habe sich nie bei ihm gemeldet.

Neue Namen

Die Stadt stellte die Statue wieder auf. Doch jetzt gab es Widerspruch. Ein ehemaliger Minister Senegals war gegen einen Wiederaufbau, der Imam von Saint-Louis ebenfalls. 2020 wurde die Statue wieder abgebaut, angeblich vorübergehend. Doch sie kam nicht wieder. Und auch der Name des Generals verschwand, aus der Place Faidherbe wurde Baya Ndar. Auch ein paar Strassen hat die Stadt umbenannt. Ein gutes Zwischenergebnis, findet Dicko. Aber es gibt noch viel zu tun.

Thierno Dicko läuft jetzt mit grossen Schritten die Strassen von Saint-Louis ab, hält an jeder Ecke und gibt sein Urteil ab. Avenue du Général Leclerc? Dicko schüttelt den Kopf. Avenue Général de Gaulle? Daumen runter. Rue de France? Wir sind hier in Senegal. Bei der Brücke, die die Altstadt mit dem Festland verbindet, erübrigt sich die Nachfrage. Sie heisst immer noch Pont Faidherbe.

This drone image shows the Faidherbe bridge that crosses the Senegal river and connects the island at the Atlantic Ocean beach, top, that has been affected by erosion in Saint Louis, Senegal, Thursday, Nov. 4, 2021. World leaders are gathered in Scotland at a United Nations climate summit, known as COP26, to push nations to ratchet up their efforts to curb climate change. Experts say the amount of energy unleashed by planetary warming would melt much of the planet's ice, raise global sea levels and greatly increase the likelihood and extreme weather events. (AP Photo/Leo Correa)

Die Franzosen, sagt Dicko, haben es schlau angestellt. Sie haben den Kolonialismus mitgebracht nach Afrika. Und als sie wieder gehen mussten, haben sie ihn einfach dagelassen. Ihre Statuen. Ihre Soldaten. Ihren Einfluss. Vor allem, sagt Dicko, haben sie den Kolonialismus tief in den Köpfen verankert. Nur deshalb hielten es die Leute über Jahrzehnte für normal, dass sie täglich an einem Denkmal vorbeilaufen, das dem Mörder ihrer Vorfahren gewidmet ist.

«Wenn in Afrika etwas passiert, das schlecht ist für Frankreich, dann ist es gut.»

Thierno Dicko

Für seinen Blick auf die Welt gibt es für Thierno Dicko eine einfache Regel. Wenn in Afrika etwas passiert, das schlecht ist für Frankreich, dann ist es gut. Die Putsche in Niger, Burkina Faso, Mali? Schlecht für Frankreich, also gut. Die gestürzten Regierungen? Waren für ihn keine Demokratien, sondern Marionetten Frankreichs. Wagner-Söldner statt französischer Soldaten? Souveräne Staaten, sagt Dicko, könnten zusammenarbeiten, mit wem sie wollten. Er habe nichts gegen Franzosen, sagt Dicko. Aber gegen Frankreichs Politik. Und wer neu anfangen will, muss mit der Vergangenheit abschliessen. Endgültig.

Der Rundgang durch die Stadt ist fast zu Ende, da bleibt Thierno Dicko noch einmal stehen und zeigt nach oben. Über dem Eingang einer Bar weht eine blau-weiss-rote Flagge. Komisch, sagt er, die hätten sie eigentlich abgehängt. Er wirkt ein bisschen enttäuscht.

Dann verabschiedet er sich und geht zu seinem Auto.

Er wohnt am anderen Flussufer, der Weg ist nicht weit. Er muss nur einmal über den Pont Faidherbe fahren.

Die Sache mit der Flagge

Kurze Nachfrage in der Bar: Stimmt das mit der Flagge? Der Chef, ein freundlicher älterer Herr, schaut irritiert. Abgehängt? Während der Fussball-WM letztes Jahr habe er die senegalesische und die französische Flagge gehisst, sagt er. Jetzt, zur Rugby-WM, nur die französische, Senegal spielt ja nicht mit. «Die Leute erzählen doch, was sie wollen.»

Er komme aus Paris, erzählt der Mann, seit 22 Jahren lebe er in Afrika. Zehn Jahre Senegal, zehn Jahre Gabun, seit zwei Jahren wieder Senegal. Die Putsche, sagt er, machten ihm Sorgen. «Wir hoffen, dass das hier nicht passiert.» Er persönlich merke jedenfalls nichts davon, dass sich die Stimmung drehe, nicht in Saint-Louis. Und die neuen Strassennamen, die gestürzte Statue? «Macht mir gar nichts aus.»

French President Emmanuel Macron (C), his wife Brigitte Macron (L) and Senegalese President Macky Sall (2R) and his wife Marieme Faye Sall walk on a bridge in Saint-Louis on February 3, 2018, on the final day of of Macron's visit to Senegal. (Photo by ludovic MARIN / POOL / AFP)

Es gibt in Senegal auch viele offizielle Vertreter Frankreichs, die man gern zur aktuellen Lage befragen würde. Aber reden will keiner. Im Institut Français in Saint-Louis bittet die freundliche Leiterin zwar in ihr brütend heisses Büro, aber mehr, als dass sie nichts sagen kann, will sie nicht sagen. «Alles sehr politisch», man möge sich an die Botschaft wenden. Im Institut Français in der Hauptstadt Dakar darf man eine Stunde im wunderschönen Garten warten, aber der Chef ist dann doch nicht zu sprechen. Bitte schreiben Sie der Botschaft. Aber die Botschaft schreibt nicht zurück.

Teil der Elite

Vom Institut Français zum Lulu sind es zwanzig Minuten mit dem Auto, die Strasse führt immer am Meer entlang. Das Lulu ist ein schickes Möbelgeschäft mit schickem Café in einem schicken Viertel von Dakar, die saudische Botschaft liegt gleich nebenan. Ndongo Samba Sylla ist zu früh und hat sich schon einen Hibiskus-Saft bestellt. Er ist 45, Glatze, Brille. Viel Zeit hat er eigentlich nicht. Aber wenn er einmal anfängt zu erklären, wie alles mit allem zusammenhängt, dann hört er so schnell nicht mehr auf.

Sylla kommt aus Dakar und wurde nach der Schule an einer elitären Militärakademie in Saint-Louis aufgenommen, wo Offiziere aus ganz Westafrika ausgebildet werden. Ein Studienkollege von ihm gehörte zu den Putschisten, die Ende August den Präsidenten in Gabun stürzten. Doch Sylla entschied sich gegen das Militär. Er ging nach Frankreich, studierte Wirtschaftswissenschaften an der Sorbonne, Soziologie an der Sciences Po, schrieb seine Doktorarbeit in Versailles und kehrte 2006 nach Senegal zurück.

A Senegalese woman holds paper money at a home in Grand-Mbao, on March 9, 2017, as she and other register  the money put in by members for a "cagnotte de la tontine" scheme. The "cagnotte de la tontine", is a  jackpot  set-up by a cooperative scheme organised among locals in the Medina area of Grand-Mbao, a neighbourhood on the tip of Africa's west coast on the outskirts of the capital Dakar. A common practice throughout Africa, many Senegalese take part in centuries-old microcredit schemes called "tontines" to finance their projects. (Photo by SEYLLOU / AFP)

Ein Afrikaner, der in Paris studiert hat und fordert, die jüngste Putschserie so frei von Emotionen und Werturteilen zu analysieren, wie einst der französische Soziologe Émile Durkheim den Suizid analysiert hat:

Ndongo Samba Sylla verkörpert das, was die Françafrique auch sein kann, aber oft nicht ist, eine grenzüberschreitende Verbindung durch Werte, Bildung und Sprache. Was die Sprache angeht, hat Sylla Aussergewöhnliches zu bieten. 2000 wurde er als erster Afrikaner Weltmeister im französischsprachigen Scrabble. «Rambardes» ist das Wort, mit dem er den Titel gewann, auf Deutsch heisst das Leitplanken oder Geländer. Drei weitere Titel kamen bis 2016 dazu. Er sei immer gut darin gewesen, sagt Sylla, unter Druck schnell zu denken.

Unterdrückung durch Sprache

Wenn man ihn heute nach seiner Beziehung zur französischen Sprache fragt, ahnt man schon, warum er kein Verteidiger der Françafrique wurde, sondern einer ihrer schärfsten Kritiker. Jede Sprache, sagt er, sei ein Schatz. Doch keine Sprache dürfe dazu benutzt werden, andere Sprachen abzuwerten. Dass senegalesische Kinder auf Französisch unterrichtet werden, der einzigen offiziellen Landessprache, würde er sofort ändern, wenn er die Macht dazu hätte. Stellen Sie sich das mal vor, sagt er: Alle Kinder kommen in die Schule und müssen Mathe in einer Sprache lernen, die sie nicht können.

Das Wort «neokolonial» wird für Syllas Geschmack zu häufig verwendet. Aus seiner Sicht trifft es nur auf die französische Afrikapolitik ab den Sechzigerjahren wirklich zu. Frankreich, sagt Sylla, habe seine Kolonien in eine «Unabhängigkeit ohne Souveränität» entlassen, weil Charles de Gaulle seinen Traum von der französischen Autonomie in Afrika habe verwirklichen wollen. 

Ein Land, das den Franc CFA verliess, musste mit Vergeltung rechnen.

Die neuen Staaten mussten sich verpflichten, wichtige Rohstoffe nur nach Frankreich zu exportieren, viele in Westafrika aktive Energiekonzerne waren und sind bis heute französisch. Sie bekamen Staatschefs, die in Frankreich studiert hatten und Frankreichs Interessen vertraten und die Paris bei Bedarf auch mit illegalen Mitteln an der Macht hielt. Und sie zahlten mit Geld, das Frankreich druckte und kontrollierte: mit dem Franc CFA, den es in einer westafrikanischen und einer zentralafrikanischen Variante gibt. Ein Land, das den Franc CFA verliess, musste mit Vergeltung rechnen – so wie Guinea, das 1960 von Frankreich mit Falschgeld geflutet wurde, um die neue Währung zu schwächen.

China liegt vorne

Frankreich ist längst nicht mehr die wirtschaftliche Übermacht in Westafrika, ganz vorn liegt inzwischen in vielen Statistiken China. Und der Franc CFA ist nicht mehr die Kolonialwährung, als die er 1945 gegründet wurde, das räumt auch Sylla ein. Paris hat heute zum Beispiel kein Vetorecht mehr in den beiden Zentralbanken.

Pupils write on their notebook as they attend class at a primary school in Pikine, on the outskirts of Dakar, on January 30, 2018. Education is a challenge in Senegal, and Dakar hosts from February 1, 2018 the third conference of reconstitution of funds of the Global Partnership for Education (GPE). The next day several heads of state, including the French president, sponsor of the meeting and Senegalese President. (Photo by SEYLLOU / AFP)

Aber für viele in Westafrika bleibt der Franc CFA ein Symbol der Fremdherrschaft. Er wird bis heute in Frankreich gedruckt. Und er ist bis heute mit festem Wechselkurs an den Euro gebunden, so wie früher an den Franc. Befürworter sagen: Das stabilisiere den Franc CFA. Sylla sagt: Die westafrikanischen Staaten könnten immer noch nicht über ihr eigenes Geld bestimmen. Unabhängigkeit ohne Souveränität. Ginge es nach ihm, dann bekäme jedes Land in Westafrika seine eigene Währung.

Langlebige Clans

Ndongo Samba Sylla arbeitet gerade an einem neuen Buch, es geht um die jüngsten Putsche. Seine These geht in etwa so: Solange Frankreichs Favoriten in Westafrika an der Macht blieben und den Nachschub an Erdöl und Uran sicherten, war es Paris herzlich egal, ob sie sich dabei selbst schamlos bereicherten oder Wahlen fälschten.

Das Ergebnis: unterentwickelte Demokratien, bettelarme Bevölkerungen und Regimes, die so reich und langlebig sind wie kaum irgendwo sonst auf der Welt. Der Bongo-Clan in Gabun zum Beispiel, berüchtigt für seinen exzessiven Champagnerkonsum, regierte 56 Jahre lang. Genau das falle Frankreich heute auf die Füsse, sagt Sylla. Denn wenn die Lage schlecht ist, aber Wahlen keine echten Wahlen sind, dann lässt sich die Macht, die Dinge zu verändern, nur auf einem Weg erobern: durch einen Putsch.

Die von Frankreich errichtete Ordnung in Westafrika zerfällt, da sind sich Ndongo Samba Sylla und Thierno Dicko einig. Doch glücklich ist darüber nur Dicko. «Erst kam die formale Unabhängigkeit, jetzt kommt die echte», sagt er. «Und diesmal lassen wir nichts aus.»

Sylla sagt: «Uns stehen unruhige Zeiten bevor.» Aber die Hoffnung, dass nach den unruhigen Zeiten bessere kommen, die hat er auch.