Analyse zum Israel-Palästina-KonfliktDer Nahe Osten wird sich verändern – und die Welt wird dies nicht länger ignorieren können
Europa, die USA und Israel haben ihre Prioritäten in der Nahost-Politik in den letzten Jahren verschoben. Der aktuelle Konflikt zeigt, dass sie dabei einiges unbeachtet liessen.
So vieles an diesem Krieg im Nahen Osten ist auf ungeheuerliche Weise neu, präzedenzlos, wie es oft heisst. So vieles ist furchtbar bekannt. Ganz sicher präzedenzlos ist die Zahl der israelischen Opfer, ermordet auf israelischem Boden in ihren Häusern, Kibbuzim und auf dem Rave-Festival «Tribe of Nova». Ein Randaspekt angesichts dieser Verbrechen, aber dennoch erstaunlich ist der Rückgriff der Terroristen auf analoge Kommunikation, auf Zettelchen und Mittelsmänner, mit denen sie die Abhörtechniken der Hightech-Nation Israel umgingen.
Wie weit wird der Staat gehen?
Israel, so wiederum der bekannte Ablauf des Konflikts, wird zurückschlagen, muss zurückschlagen, so sehen es viele nicht nur im eigenen Land, muss Stärke zeigen, Vergeltung üben, vielleicht die Hamas für immer zerschlagen. Wie weit der tief verwundete Staat und die gedemütigte Armee gehen werden, weiss niemand. Inzwischen sind mehr Palästinenser durch israelischen Beschuss gestorben, als Israelis durch die Hamas ermordet wurden. Und Israel lässt den Norden des Gazastreifens räumen, wohl für eine Bodenoffensive.
Einige europäische Politiker fordern Israel auf, sich «im Rahmen des internationalen Rechts» zu verteidigen. Manche, zumal in Israel, dürften selbst diese vorsichtige Mahnung als kaltherzige Schulmeisterei begreifen. Israels Ex-Premier Naftali Bennett verwahrte sich auf Sky News ungehalten gegen die Frage nach palästinensischen Opfern, Israel kämpfe gegen «Nazis». Die Likud-Abgeordnete Revital Gotliv redete in den digitalen Netzwerken dem Einsatz von Atomwaffen in Gaza das Wort.
Der Nahe Osten wird sich verändern, er muss es wohl auch, und die Welt wird dies nicht länger ignorieren können.
Eines jedoch ist gewiss: Der Nahe Osten wird sich verändern, er muss es wohl auch, und die Welt wird dies nicht länger ignorieren können. Genau dies hatten zumindest Europa und die USA nach einer langen Geschichte der Aufteilung, Anleitung und Aufrüstung arabischer Staaten zuletzt getan. Die Erschöpfung ist begreiflich.
Der Sturz Saddam Husseins vor 20 Jahren hatte die USA in einen jahrelangen Krieg geführt – und den Irak in die Hölle aus Glaubenskämpfen und Sektierertum. Der Arabische Frühling 2011 wiederum hatte einige der schlimmsten Diktatoren in Kairo, Tunis und Tripolis hinweggefegt, aber er mündete in die nächsten Autokratien, Bürgerkriege oder Terror. Dass die Enttäuschung über diesen vermeintlich unreformierbaren, ja nicht demokratietauglichen Teil der Welt auch eine Folge falscher Erwartungen war, macht sie kaum weniger bitter.
Nicht einmal Barack Obama, der bereits 2009, in seinem ersten Amtsjahr, eine viel beachtete Rede an der Kairoer Universität gehalten hatte, fand nach dem Sturz der Autokraten in Ägypten, in Tunesien und in Libyen den Weg in die Region. Die Aufmerksamkeit der Weltmacht hatte sich längst auf den Pazifik und auf den sogenannten Systemrivalen China gerichtet. Der Nahe Osten hingegen sank zurück auf den Status einer geopolitisch zu vernachlässigenden Grösse, unbelehrbar, unveränderbar, gefangen in Zyklen der Gewalt und des religiösen Fanatismus. Mit dem Entstehen des Islamischen Staates (IS) wurde er als Terrorbrutstätte beforscht und bereist, mit dem Ende des IS auch dies nicht mehr.
Die hässliche Seite des «new normal»
Europa glaubte es sich leisten zu können, den Nahen Osten zuletzt einzig unter Aspekten der Migrationseindämmung zu betrachten: Welches Land bringt Flüchtlinge hervor? Welcher Diktator hält sie auf? Und was kostet das? Im Vergleich zu allen anderen komplexen Herausforderungen der Gegenwart – Corona, Klimawandel – schien der Nahe Osten unerfreulich, aber stabil zu sein. Und dass Schlächter wie der syrische Präsident Bashar al-Assad wieder salonfähig geworden sind, zumindest für die Arabische Liga und für China, wurde als hässliche Seite des «new normal» hingenommen.
Russlands Überfall auf die Ukraine hat dieses aktive Desinteresse drastisch verstärkt – auch wenn die in Menschenrechtsfragen zweifelhaften Golfstaaten als Energielieferanten dann doch plötzlich wieder besonders interessant wurden.
Damit ist es jetzt vorbei. Tausende Menschen sind im Urkonflikt der Region gestorben, Tausende weitere werden sterben, und ob sich der Krieg auf Israel beschränken oder ausweiten wird auf den Libanon, Syrien und den Iran, ist völlig unklar.
Nun ist die israelisch-saudische Annäherung erst einmal vom Tisch, stattdessen nähern sich Riad und Teheran an.
Folglich liegt aber auch eine Sicherheitsarchitektur in Scherben, mit der Israel aus der Isolation in der Region ausbrechen wollte. Unter Führung der USA hatte Benjamin Netanyahu im Jahr 2020 Abkommen mit Bahrain und den Vereinigten Arabischen Emiraten geschlossen; auch Marokko erkannte Israel als Staat an. Schliesslich schien sogar eine Aussöhnung mit Saudiarabien denkbar zu sein – dies alles aber ohne einen einzigen Gedanken an die Palästinenser, die ihre saudische Schutzmacht gerade in dem Moment zu verlieren drohten, in dem eine zu beträchtlichen Teilen rechtsextreme Regierung in Jerusalem und eine angebliche «Justizreform» ihre Rechte noch weiter beschränkten. Es ist keine Rechtfertigung des Hamas-Terrors, wenn man festhält, dass die Palästinenser zuletzt so gut wie niemanden mehr von politischem Gewicht hatten, der sich für ihre Rechte einsetzte.
Nun ist die israelisch-saudische Annäherung erst einmal vom Tisch, stattdessen nähern sich Riad und Teheran an. Das muss nicht sehr weit führen, aber es zeigt, wie sehr die Region in Bewegung geraten ist. So unwahrscheinlich es gerade jetzt klingt: Ohne ein Auskommen mit den Palästinensern wird Israel keine Sicherheit gewinnen können. Wird die Hamas überleben? Wird der Gazastreifen an Ägypten fallen? Wird der Iran die Hizbollah mobilisieren? So ungewiss die Zukunft der Region gerade zu sein scheint: Sie verdient die ganze Aufmerksamkeit der Welt.
Fehler gefunden?Jetzt melden.