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Spitzensportler auf Bewährung
Am Abgrund, ohne Einnahmen – so hart trafen Flückiger die Dopingvorwürfe

Während seiner Ausführungen geriet er ins Stocken: Mathias Flückiger bei seinem emotionalen Auftritt in Ittigen.
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Die erste Pointe dieses aufwühlenden Tages für Mathias Flückiger beginnt schon mit dem Raum, in dem er sich in den nächsten zwei Stunden erklären wird. «Fairplay» heisst er, an der Wand steht: «Wage und spiele für sportliche Ziele.»

Mountainbiker Flückiger aber waren in den vergangenen Monaten nicht nur die Ziele, sondern gar fundamentale Aspekte seines Lebens abhandengekommen. Denn am 18. August, just einen Tag vor seinem geplanten Start an der EM – eine weitere Pointe in dieser Geschichte vieler Pointen –, teilte ihm Swiss Cycling mit, er sei provisorisch gesperrt.

Rund ein halbes Jahr nach diesem Donnerschlag, dem am 17. Dezember die Aufhebung dieser provisorischen Sperre durch die Disziplinarkammer von Swiss Olympic folgte, sitzt dieser gezeichnete Flückiger also im Raum «Fairplay» am Sitz von Swiss Olympic in Ittigen. «Persönlicher Teil – mit Rückblende, Stand heute und Ausblick in die Zukunft» soll da verhandelt werden, aber auch «Juristischer Teil des Falls» und «Wissenschaftlicher Teil des Falls». 

Darum sitzt links von Flückiger sein Anwalt Thilo Pachmann, der auf seiner Website in Judo-Kleidung signalisiert, was für ein anpackender Typ er ist. In Ittigen präsentiert er sich allerdings ganz im seriösen Juristenlook, also in Anzug und mit Krawatte.

Ausgerechnet Kamber sitzt im Team Flückiger

Zur Rechten wird der 34-Jährige von Matthias Kamber flankiert, und das ist wieder so eine Pointe. Kamber war über viele Jahre Chef von Antidoping Schweiz – und argumentiert im Team Flückiger nun also gegen seine ehemaligen Kollegen. 

Klar wird rasch: Wer den Fall Flückiger nicht bis ins Detail kennt, wird vom Tempo und vom Wissen der beiden Experten rasch überfordert. Komplett verständlich und fadengerade ist jedoch ihre Hauptaussage: dass Swiss Sport Integrity in der Causa Flückiger schlicht ihren Job nicht gemacht habe. Wir kommen darauf zurück.

Auftritt erst einmal von Flückiger, der ganz Profi, seine Sponsoren auf Käppi und Pullover präsentiert. Vor sich hat er Zettel mit Stichworten. Die Hände hat er unter dem Tisch gefaltet, als er über die emotionalen letzten Monate spricht. Lange geht sein Blick dabei ins Leere – und wird starr, als er den Zuhörern vom fatalen Moment erzählt, als ihm an jenem 18. August die Nachricht der provisorischen Sperre überbracht wurde.

Flückigers Stimme wird für einen Moment brüchig, als er sagt: «Ich stand eine Stufe vor dem Abgrund. Ich hatte von einem Moment auf den anderen alles verloren, was ich mir aufgebaut hatte.» Oder: «Alle Erfolge waren kaputt, wertlos.» Und: «Alle meine Werte waren von einer Sekunde auf die andere infrage gestellt.»

Es stand «positiver Dopingtest» – ein fataler Fehler

Denn eines konnte Flückiger von Beginn an ausschliessen: gedopt zu haben. Swiss Cycling aber liess noch an jenem Augustabend eine Pressemitteilung heraus, in der ein fataler Fehler stand: «positiver Dopingtest» und «anabole Substanz». In den Köpfen der Leser und Leserinnen kam an: Flückiger wurde als (harter) Doper erwischt, wie so viele Radfahrer vor ihm.  

Richtig war: Die Analyse aus einem Test an den nationalen Meisterschaften vom 5. Juni hatte ein atypisches Resultat auf das verbotene Anabolikum Zeranol ergeben. Die nationale Antidoping-Agentur verfolgte den Fall, entschied nach Abklärungen auf ein auffälliges Resultat und sprach diese provisorische Sperre aus (welche Swiss Cycling verhängen musste). 

Was die Dopingjäger damit sagten: Sie hielten einen Betrug für wahrscheinlicher als eine mögliche Kontamination, beispielsweise durch Fleisch. Denn eine andere Pointe macht diese Causa Flückiger so aussergewöhnlich. Es existieren so gut wie keine Dopingfälle, die auf diesem Zeranol beruhen. Und: Es gibt auch keine Studien rund um Zeranol und Sport. Wie es wirkt, ob es wirkt, wie lange es dauert, bis es im Körper abgebaut wird: Alles unerforscht. 

Und darin besteht eine Hauptkrux dieses Falls: Wie soll Flückiger nun beweisen können, dass seine Probe tatsächlich durch ein Lebensmittel kontaminiert war, wenn es keine Erfahrung mit diesem Produkt gibt – aber man weiss, dass es im Ausland breit in der Tiermast eingesetzt wird?   

Das heisst aber auch: Wie soll Swiss Sport Integrity ihre Betrugsthese belegen können? Und darin besteht eine weitere Pointe: Flückigers wissenschaftlicher Berater Kamber sagt: «Die Ursache bleibt unklar.» Auch Ernst König, Leiter von Swiss Sport Integrity, sagt in anderen Worten dasselbe. Und Flückiger?

Flückiger fragt sich nach seinen Erfahrungen zu Recht, ob er diesem Antidoping-Prozedere noch trauen kann.

Er will natürlich die Quelle herausfinden. Schliesslich darf er wieder an Rennen teilnehmen, wird wieder kontrolliert werden – und fragt sich nach seinen Erfahrungen zu Recht, ob er diesem Antidoping-Prozedere noch trauen kann. Nachdem sich Flückiger über Tage nicht mehr aus dem Haus getraut hatte, weil er glaubte, nun von allen als Doper abgestempelt zu sein, wagte er sich in kleinen Schritten wieder ins Leben. 

Seine Partnerin kündigte gar ihren Job als Lehrerin, um ihn stützen zu können, sein Bruder Lukas bildete rasch ein Team, um die Causa aufzuarbeiten und Mathias Flückiger ein Fundament zu bauen. Mit dem Spitzenradsport aber habe er in jener Zeit abgeschlossen gehabt, sagt Flückiger nun. Ihm sei klar gewesen, dass er «nie mehr an einer Startlinie stehen wird. Da war nicht mal mehr ein Funken Hoffnung an eine Rückkehr».

Die zwei Männer, die ihn in Ittigen flankieren, tragen auch dazu bei, dass Flückiger «irgendwann doch wieder den Glauben entwickelt», seine grosse Leidenschaft erneut beruflich leben zu können. Denn seine Sponsoren haben die Verträge bis heute eingefroren, was bedeutet, dass Flückiger von seinem Ersparten lebt.

Beim Verfahren wurde gepatzt

Flückigers Anwalt Pachmann aber erkennt den Hebel rasch: Swiss Sport Integrity patzt beim Verfahren. Die Welt-Anti-Doping-Agentur definiert seit Juni 2021, wie mit vermeintlichen (Fleisch-)Kontaminationsfällen umzugehen ist. Punkt für Punkt listet sie das Vorgehen auf, darunter gehört auch der Umgang mit Zeranol.

Swiss Sport Integrity aber interpretiert die Richtlinien als Empfehlung statt als Vorgabe – und verpasst es damit, in allen Punkten korrekt vorzugehen. Primär darum entscheidet die Disziplinarkommission letztlich: Der Fall muss zurück an Swiss Sport Integrity. Diese muss alle Punkte abarbeiten und dann entscheiden, ob sie die Causa einstellt oder weiterverfolgt.

Dass Flückiger darum sagt, er lebe «Tag für Tag», ist für einmal keine Worthülse, sondern schlicht die Situation. Denn viele Szenarien sind noch möglich wie: Die Schweizer Dopingjäger stellen den Fall ein, dann könnte aber die Welt-Anti-Doping-Agentur vor dem internationalen Sportgerichtshof dagegen vorgehen. Oder die Schweizer Dopingjäger eröffnen ein ordentliches Verfahren, das je nach Ausgang wiederum von verschiedenen Parteien anfechtbar ist.

Heisst alles zusammen: Mathias Flückiger ist ein freier Spitzensportler auf Bewährung, dabei wünschte er sich nur eines: «Dass diese Geschichte endlich ein Ende findet.» Es passt jedoch zu seinem reifen Umgang mit dieser tiefen Zäsur in seinem Leben, dass er gleichzeitig sagt: «Ich möchte diese Geschichte keineswegs getilgt haben. Natürlich hinterlässt sie eine Narbe, aber dafür sind Narben: Sie erinnern an schwierige Situationen im Leben.»