Schweizer Diplomaten erzählenAls Gorbatschow in Genf Reagan zum historischen Gipfel traf
Einen grossen Auftritt in der Schweiz hatte der damalige sowjetische Präsident, als er 1985 mit dem US-Präsidenten Ronald Reagan über atomare Abrüstung verhandelte – Zeitzeugen erinnern sich.
Nach sechsjähriger Funkstille zwischen Moskau und Washington – im November 1985 – trafen sich Michail Gorbatschow und Ronald Reagan in Genf zu mehrtägigen Verhandlungen. Rückblickend gesehen, gilt das Gipfeltreffen als Wendepunkt im Kalten Krieg und dem Fall der Berliner Mauer.
Reagan brauchte Ruhe
Samstag, 16. November 1985, um 22 Uhr am Flughafen Genf-Cointrin. Das Wetter war garstig, das Thermometer stand bei minus 15 Grad. Alle wussten: Mit warmen Händedrücken und Begrüssungsreden im Freien würde es schwierig werden. Bundespräsident Kurt Furgler liess sich nichts anmerken. Als Gastgeber des russisch-amerikanischen Gipfels wartete er geduldig auf die Ankunft seiner ersten Gäste: Nancy und Ronald Reagan. Der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow und seine Frau Raissa sollten zwei Tage später eintreffen.
Um 22.22 Uhr setzte die Air Force One auf der Landebahn auf. Kurt Furgler und seine Entourage beobachteten das Landemanöver von einem 30 Zentimeter hohen, hölzernen Empfangspodium aus. Gemäss dem Protokoll sollte die Boeing 707 vor das Podium rollen.
«Als sich die Flugzeugtür öffnete und Reagan auftauchte, war meine spontane Reaktion: Dieser Gipfel wird kaum ein gutes Ende nehmen!»
Auch Edgar Fasel, Kurt Furglers persönlicher Mitarbeiter, stand auf dem Podium. Fasel erinnert sich: «Als sich die Flugzeugtür öffnete und Reagan auftauchte, war meine spontane Reaktion: Dieser Gipfel wird kaum ein gutes Ende nehmen! Reagan wirkte alt. Er schlotterte, obwohl er in einem dicken Pelzmantel steckte. Der Westen schien schlecht vertreten», so Fasel.
Im Flughafeninnern hatte man zu Ehren des 74-jährigen Präsidenten einen Apéro aufgebaut. Doch ein US-Botschafter bedeutete, der Empfang müsse ohne Reagan stattfinden. Dieser brauche Ruhe. Er wolle schlafen. Zum Verdruss Hunderter Journalisten brachte man die Reagans statt an den Apéro direkt in eine Privatresidenz, eine Villa am Ufer des Genfersees.
Gorbatschows Bescheidenheit
Erst am 18. November um 11.44 Uhr traf auch der 54-jährige Gorbatschow mit Ehefrau in Genf ein, in einer Tupolew der staatlichen Fluggesellschaft Aeroflot. Auch ihn empfing Furgler mit Gefolge. Raissa und Michail Gorbatschow wünschten sich keine noble Privatresidenz am See, sondern entschieden, in der sowjetrussischen UNO-Mission zu nächtigen.
«Niemand realisierte damals, dass der Gipfel in Genf als historisches Treffen in die Geschichte eingehen würde.»
Edgar Fasel sagt: «Der Gipfel war der grösste Moment in meinem Berufsleben.» Raymond Loretan, auch er ein Zeitzeuge, betont jedoch: «Niemand realisierte damals, dass der Gipfel in Genf als historisches Treffen in die Geschichte eingehen und ein wichtiger Schritt zum Ende des Kalten Krieges und dem Fall der Berliner Mauer sein würde.»
Loretan, der später Diplomat wurde, nahm als persönlicher Sekretär von Edouard Brunner, dem Staatssekretär im Aussendepartement, am Gipfel teil. Die Erwartungen an das Treffen waren gross, aber noch grösser schienen die Spannungen zwischen den Staatschefs zu sein. Zu unterschiedlich tickten die Männer. Zu sehr misstrauten sie sich.
«Misstrauen aus der Welt schaffen»
Als Gastgeber war Kurt Furgler also gefordert. Er musste alles tun, damit sich die Männer näherkamen. Generös sollte er sein, allen Komfort bieten, seine Gäste wichtig reden und wohlig stimmen – aber bei all dem durfte er nicht aufdringlich wirken. Aus den direkten Gesprächen zwischen Amerikanern und Russen musste er sich strikte heraushalten. Furglers Wunsch, Gorbatschow und Reagan im Bundeshaus in Bern zu empfangen, redeten ihm Mitarbeiter erfolgreich aus.
Wie so oft in der Diplomatie spielte die Symbolik eine zentrale Rolle. Furgler bezog die Villa «Le Reposoir», die ihm die Genfer Bankiersfamilie Pictet zur Verfügung stellte. Dort empfing er am Nachmittag des 18. November zuerst den amerikanischen und später den sowjetischen Führer. Die Gesprächsprotokolle der Treffen hat die Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis) unlängst zugänglich gemacht.
«Wir sind stolz, Sie in der Schweiz zu haben», begrüsste Furgler Reagan in seinem geliehenen Anwesen. Selbiges hatte er ihm schon zwei Tage zuvor am Flughafen versichert. Nun würdigte Reagan die Schwesterrepublik nochmals und sagte: Die Schweiz teile mit den USA «dieselbe Philosophie, dieselben Ideale von Freiheit und Friede, der individuellen Freiheit und des freien Handels».
Reagan blickte voller Zuversicht auf den Gipfel. Er sei nach Genf gekommen, um «Misstrauen aus der Welt zu schaffen», bekräftigte er vor Furgler und erinnerte daran, dass man bei neun zurückliegenden sowjetisch-amerikanischen Treffen stets über Allgemeinplätze gesprochen hatte, dass es in Genf aber konkret über die militärische Abrüstung gehe.
«Es wurde geprobt, als ginge es um einen Theaterauftritt.»
Raymond Loretan sass bei Reagans Empfang im «Le Reposoir» mit im Raum. Im Wortprotokoll taucht er als Übersetzer auf. Heute sagt Loretan: «Furgler war souverän. Der Gipfel war seine Krönung als Politiker.»
Tage zuvor, in seinem Büro in Bern, hatte der Bundespräsident noch ganz anders gewirkt. Kurt Furgler bereitete sich im Beisein von Loretan, Fasel und Staatssekretär Brunner auf seine Treffen mit Reagan vor und feilte an seiner Rede. Der Bundespräsident sei angespannt gewesen, er habe gezittert, erinnert sich Loretan. Wort für Wort habe er seine Reden eingeübt. Jede Satzmelodie, jede Betonung wurde diskutiert. «Es wurde geprobt, als ginge es um einen Theaterauftritt», so Loretan.
Auf Furgler habe die ganze Verantwortung gelegen, sagt Edgar Fasel. «Von Aussenminister Pierre Aubert kam kaum Unterstützung. Auf Englisch konnte sich Aubert kaum ausdrücken», so Fasel. Der Aussenminister habe am Gipfel darum nur eine kleine Nebenrolle gespielt.
Furgler erinnerte an Lenin
Furgler aber trumpfte auf. Der St. Galler sprach sogar auf Russisch. Beim Empfang von Gorbatschow sagte er: «In der Tatsache, dass Sie unser Land für das Gipfeltreffen gewählt haben, sehen wir einen Beweis für Ihr Vertrauen in die neutrale Schweiz.» Er erinnerte daran, dass Lenin zwischen 1914 und 1917 in Genf gelebt hatte.
Der stets streng und etwas griesgrämig wirkende Gorbatschow öffnete sich. Er versicherte Furgler: «Wir sind glücklich, nach Genf gekommen zu sein. Ihre ausserordentliche Stadt hat den Beschützern der Zivilisation, des Fortschritts, des Friedens und der Freiheit während Jahrzehnten viele Male ihre Gastfreundschaft angeboten.»
«Die beiden Staatschefs hatten plötzlich Sympathien füreinander.»
Was in den folgenden beiden Tagen zwischen Gorbatschow und Reagan geschah, beschreibt Raymond Loretan so: «Der Gipfel bekam eine eigene Dynamik. Die beiden Staatschefs hatten plötzlich Sympathien füreinander, die sie zuvor nicht hatten. Sie gingen aufeinander ein, packten Probleme an, das Eis war gebrochen.» Die Gastgeber freuten sich.
Der Gipfel von 1985 hat gezeigt: Was ein solches Treffen bewirkt (oder eben nicht), zeigt sich erst viele Jahre später.
Dieser Artikel wurde erstmals am 09.06.2021 im Vorfeld des Genfer Gipfels zwischen Wladimir Putin und Joe Biden publiziert. Anlässlich des Todes von Michail Gorbatschow bringen wir den Text in einer leicht überarbeiteten Version erneut.
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