Zurück aus dem chinesischen ZwangslagerAllein gegen die Unmenschen
Sayragul Sauytbay musste eineinhalb Jahre in einem Internierungslager der Volksrepublik unterrichten. Ihr Buch über diese Zeit ist erschütternd. Diese Woche weilt sie in der Schweiz.
Wenn sie mit der Dolmetscherin redet, erkennt man an der Mimik, worum es geht. Spricht sie von den Kindern, hat das Gesicht etwas Strahlendes. Geht es um die Zustände in ihrem Herkunftsland, spricht sie schnell und energisch. Aber nie wirkt sie negativ oder verbittert.
Wir sitzen im Restaurant Più im Berner Kornhaus, Sayragul Sauytbay, die aus Schweden angereist ist, ihre Dolmetscherin aus München und Vertreter der Gesellschaft für bedrohte Völker. Die Nichtregierungsorganisation hat die 43-jährige ausgebildete Ärztin und Primarlehrerin, die heute als Menschenrechtsaktivistin unterwegs ist, eingeladen und ihren Besuch beim eidgenössischen Aussendepartement organisiert. Am Freitag wird sie zudem den Zürcher Sicherheitsdirektor Mario Fehr treffen, der sich seit Jahrzehnten für Tibet engagiert. Tibeter, Uiguren und Kasachen, zu denen Sayragul Sauytbay gehört, das sind unterdrückte Völker im Reich der Mitte.
Eine der wenigen, die öffentlich darüber sprechen
Sayragul Sauytbay hat ein Ziel: Die Welt muss Stopp sagen zu den ethnischen Säuberungen im Westen Chinas, dem ehemaligen Ostturkestan und heutigen Xinjiang. Auch die Schweiz müsse Stopp sagen. Nicht Diplomatie und Freihandel mit China will sie, sondern klare Worte und wirtschaftspolitische Sanktionen. Deshalb ist Sauytbay heute hier in Bern, an diesem nassen, verschneiten Dezembertag, und sitzt mit gelöster Miene am Tisch. Sie will keine Pizza, sondern etwas Leichtes, Gemüse oder Suppe. Die Pizza würde nach unten drücken, und das passt schlecht, denn drei Stunden später wird sie im Westflügel des Bundeshauses von einer für Menschenrechte zuständigen Delegation des Aussendepartements angehört werden.
Sayragul Sauytbay hat sich als eine der wenigen Zeugen chinesischer Internierungslager, die über ihre Erlebnisse öffentlich zu sprechen wagen, weltweit Respekt verschafft. Im Frühling dieses Jahres hat Melania Trump sie empfangen, und von Sauytbays Buch «Die Kronzeugin» wurde nach wenigen Monaten schon die dritte Auflage gedruckt.
Es ist der erschütternde Bericht eines Lebens, das so bilderbuchhaft begonnen und so dramatische Wendungen genommen hat. Als Leser glaubt man kaum, dass all dies sich tatsächlich in unserer Zeit zuträgt. Doch es ist so. Im November 2017 war es, als die damals 40-jährige Mutter zweier Kinder spätabends den Anruf bekam, sie müsse ein Taxi in die Stadt nehmen, sie werde dort abgeholt für eine Lehrerweiterbildung. Dass sie ein ungutes Gefühl hatte, was nützte es. Sie hatte keine Wahl, denn die würden sie ohnehin finden und holen, überall. Es war das Ende eines Lebens, das wegen der zunehmenden Repression schwieriger geworden war, aber in dem es doch viel Schönes gegeben hatte für die behütete Tochter einer kinderreichen Familie.
Sie war in idyllischer Umgebung aufgewachsen, am Fusse verschneiter Berggipfel, umgeben von fruchtbaren Wiesen, zwischen Schafen und Kühen. Als Klassenbeste hatte sie ihre Eltern stolz gemacht, als Ärztin, Lehrerin und Schulleiterin tat sie viel für die Gesellschaft. Es war das Ende ihres Lebens in der Heimat, die auf penetrante Art von Chinesen okkupiert worden war.
«Wir sind hier nicht in China», sagen die schwedischen Beamten zu ihr. «Machen Sie sich keine Sorgen.»
Es ist verboten, zu lachen, zu weinen oder ohne Aufforderung zu reden. Kein Mitgefühl, kein Kontakt irgendwelcher Art zu den Häftlingen. Wer eine Regel missachtet, den erwartet die Todesstrafe. Das stand im Vertrag, den der Beamte ihr über den Tisch schob. Sie werde fortan als Chinesischlehrerin in dem Umerziehungslager arbeiten, so werden die Lager in China offiziell genannt. Die Unterdrückten nennen sie Konzentrationslager. Nach dem, was Sayragul Sauytbay im Buch schildert, trifft Letzteres zu.
Es war die Nacht, in der sie mit dem Taxi in die Stadt gefahren kam. Polizisten holten sie ab und schleusten sie in das Lager. Was sie in den darauffolgenden Monaten erlebte, machte sie krank, verfolgt sie bis heute in jeder Minute. Schreie aus der Folterkammer, Vergewaltigungen, unmenschliche Behandlung. Irgendwann kam sie selber in die Folterkammer. Eine 84-jährige Kasachin, die ins Lager gebracht wurde, war zu ihr geeilt und hatte sie um Hilfe angefleht. Sayragul Sauytbay hatte kurz den Arm um sie gelegt, sie hatte womöglich eine Spur Mitgefühl gezeigt, wie sie sich im Buch erinnert. So genau wisse sie es nicht mehr.
Wir reden nicht über die Lagererfahrungen. Denn erstens steht das alles in dem Buch, und zweitens fällt es ihr schwer, darüber zu reden. Sie stehen ohnehin jede Nacht um ihr Bett herum, die weinenden Mädchen. Wenn Sayragul Sauytbay einschläft, schreckt sie sofort wieder hoch. Keine Nacht ohne Albträume.
Das Leben in Freiheit
Nein, nachdem sie das leichte Mittagessen beendet hat, reden wir über Politik, Kinder und ihr heutiges Leben in Schweden. «Ich liebe Schweden», sagt sie. «Das Land hat mir ein neues Leben gegeben.» Am Wochenende geht sie mit den Kindern am Strand spazieren. Sie bringt sie zur Schule und holt sie ab. Sie liebt es, wenn die Kinder sie beim Englischlernen korrigieren. Das Leben in einer Demokratie, wo niemand kontrolliert und bevormundet wird, ist ungewohnt. Zwar hören die Drohanrufe anonymer Männer nicht auf. Manchmal sind es so viele, dass sie das Handy auf Flugmodus stellt, um einige Stunden in Ruhe lernen zu können. Doch der Unterschied jetzt: Die schwedischen Beamten helfen ihr. «Wir sind hier nicht in China», sagen sie. «Machen Sie sich keine Sorgen.» Vor eineinhalb Jahren erreichten sie Europa, Sayragul Sauytbay, ihr Mann, ebenfalls Lehrer, und die beiden Kinder, heute 14 und 10 Jahre alt.
Im Hinblick auf die Schweiz-Reise hätten sich die anonymen Anrufe wieder gehäuft, erzählt sie. Die Anrufer wollten wissen, was sie in der Schweiz mache, wen sie treffe. Forderten sie auf, die Reise abzusagen und endlich den Mund zu halten. «Ich habe ihnen gesagt, ich wisse nicht, mit wem ich spreche, und könne daher keine Auskunft geben.» Sie sagt es auf Uigurisch, und die Dolmetscherin übersetzt es auf Deutsch. Sayragul Sauytbay blickt währenddessen der Gesprächspartnerin in die Augen. Entschlossen und mit einer verbindlichen Herzlichkeit.
«Wir sind unschuldig, wir sind keine Verbrecher. Warum sollten wir Angst haben?»
Erstaunlich offen gibt sie über alles Auskunft: Wohnort, Angaben über die Kinder, Details aus ihrem Leben. Nach Jahrzehnten in einem repressiven Überwachungsstaat und bei der anhaltenden Verfolgung durch anonyme Anrufer hätte sie Grund zu Skepsis und Misstrauen. Das findet sie aber nicht. «Wir sind unschuldig, wir sind keine Verbrecher. Warum sollten wir Angst haben?» Wenn ein Volk leide, müsse man die Dinge aussprechen. Sie versteht nicht, warum es nicht noch viel mehr Menschen machen, die den chinesischen Konzentrationslagern entkommen sind.
Es stört sie, dass im Westen von «Menschenrechtsverletzungen» gesprochen wird. Was derzeit in China passiere, sei ein Genozid, sagt sie. Sie wünscht sich, dass die Schweiz und die Vereinten Nationen das so anerkennen. Die 1200 oberirdischen Lager sowie eine unbekannte Zahl unterirdischer Lager hätten nur ein Ziel: die einheimische muslimische Bevölkerung im Westen des Landes auszulöschen: Uiguren, Kasachen, Kirgisen oder auch muslimische Chinesen. Wer sich total assimiliert, habe gewisse Überlebenschancen. Alle anderen nicht. Sie selber entkam mit Mühe, die Flucht war eine Odyssee. Man liess sie frei, wollte sie dann aber wieder inhaftieren, worauf sie die Flucht ergriff. Nach Kasachstan, wo ihr Mann und die Kinder bereits waren. Von dort später nach Schweden.
China verfolge einen klaren Plan
Die Schweiz sei ein starkes, reiches Land, sagt Sayragul Sauytbay. Sie könne etwas bewirken. Das Freihandelsabkommen müsse überarbeitet werden, die Einfuhr chinesischer Produkte müsse man stoppen. «Die Chinesen kaufen lieber Produkte aus dem Westen, weil die einheimischen Produkte mit giftigen Materialien hergestellt sind. Der Westen sollte China diese Produkte nicht abkaufen.»
Doch angesprochen auf die zweifelhafte Wirksamkeit von Wirtschaftssanktionen sagt Sayragul Sauytbay: «Der wirksamste Hebel gegenüber China wäre, wenn die Schweiz die Kontoguthaben von chinesischen Parteikadern einfrieren würde, die ihr Geld bei Schweizer Banken aufbewahren. Chinesen sind materialistisch, so etwas würde sie besonders treffen.» Sie ist überzeugt: China verfolgt einen klaren Plan. Zuerst nimmt es sich die muslimischen Gruppen im Land vor, dann die Nachbarländer und schliesslich Europa. China sei auf einem globalen Feldzug, sagt sie, und freiheitliche Demokratien böten hierfür das ideale Einfallstor.
Auf dem Weg vom Restaurant zum Bundeshaus, wo der Fotograf wartet, lacht und scherzt sie. Jeder Anlass ist willkommen, der sie für einen Moment wegholt von den ernsten Themen. Und sei es ein Velofahrer, der hinter ihr klingelt, weil er überholen will. Sie unterbricht kurz die Fotosession, um sich zu verabschieden. «Mein Ziel ist es, dass mein Volk befreit wird. Und dass unsere Region unabhängig wird. Ohne Unabhängigkeit von China gibt es für uns keine Freiheit.»
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