Ärger mit zu langer KulturMachs kurz!
Dreistündige Filme, tausendseitige Bücher, endlose Theaterabende: Warum ist alles so wahnsinnig lang? Ein Plädoyer für den Mut zum Weglassen.
Die Runde im Buchclub diskutiert, was als Nächstes gelesen werden soll. Person eins schlägt vor: «Wie wäre es mit was von Philip Roth?» Person zwei erwidert: «Der ist mir zu heteronormativ, was haltet ihr von Siri Hustvedt?» Person drei: «Ihr letzter Roman war doch total überschätzt.» Die, die beim Bachmannpreis so einen tollen Text vorgelesen hat? Hat politisch keine Haltung. Diese polnische Autorin? Hat den Nobelpreis nicht verdient.
Sie sehen: ein Gespräch auf hohem Niveau, bei dem lediglich die Qualität eines Werkes zur Debatte steht. Theoretisch. In Wahrheit wird in meinem Buchclub so verhandelt: «558 Seiten? Seid ihr verrückt? Wann soll ich das lesen? Bitte nichts über 300. Habt ihr kein Leben?»
Pauschal kann man sagen: Für Kürze gibt es gute Gründe. Für Länge sehr wenige.
Tausendseitige Bücher, stundenlange Kinofilme, Serien von mehreren Staffeln Länge, Theaterinszenierungen, bei denen nach viereinhalb Stunden noch immer kein Ende in Sicht ist, obwohl wir uns so danach sehnen aufzustehen: Werke der Kunst sind sehr oft sehr lang und noch viel länger. Muss das sein?
Kürze spart Lebenszeit
Muss es natürlich nicht. Pauschal kann man sagen: Für Kürze gibt es gute Gründe. Für Länge sehr wenige. Es ist doch so: Nie zuvor hatten wir so viel Freizeit und sind gleichzeitig so gestresst wie nie von der Frage, womit wir sie verbringen sollen.
Es gibt Bücher, Serien und Filme, die Theater bringen pro Saison mehr Premieren auf die Bühne als je zuvor, ständig finden Konzerte statt, dann die Pop-Festivals, hier ein neues Indie-Album, da eine total subversive Operninszenierung, Ausstellungen, Lesungen, Performances, Lesungsperformances und alles, alles dazwischen – viel mehr, als ein einzelner Mensch in einem einzigen Leben auch nur registrieren kann. Ein Grund für Kürze ist also: Sie spart Lebenszeit.
Seit Corona im Nachholstress
Kürzlich sprach der Soziologe Hartmut Rosa in einem Interview von einer Art Corona-Nachholstress, der die Leute besonders unruhig werden lasse. Klar, wer drei Jahre lang auf gar keinem Konzert war, will endlich die Lieblingsband live sehen. Rosa sagt aber auch: «Wir haben es mit gefühltem Druck zu tun, was man angeblich alles tun und schaffen müsste, weil der Möglichkeitshorizont immer grösser geworden ist.»
Sprich: Wir ertrinken in Optionen, und dazu gehören auch kulturelle Angebote. Da den Überblick zu wahren, ist schier unmöglich, eine Auswahl zu treffen, noch schwieriger und unter Umständen sehr folgenreich. Denn während man in einem mittelmässigen Arthouse-Film gefangen ist, verpasst man ganz sicher einen guten. Wer hat nicht schon entnervt Netflix wieder geschlossen, weil das Angebot einfach zu überbordend war, um eine Entscheidung zu treffen? Jede Entscheidung für ist heute auch immer eine Entscheidung gegen etwas, das nur einen Klick, einen Download, einen Ticketkauf entfernt ist.
Buch weglegen als ziviler Ungehorsam
Sicher hat das Herzflattern angesichts des permanenten Kultur-Overkills auch mit Fomo zu tun, also mit dem Phänomen «Fear of Missing out», der Angst, etwas Grossartiges oder Neuartiges zu verpassen. Die amerikanische Autorin und Künstlerin Jenny Odell schreibt in ihrem Buch «Nichts tun» über die zeitfressende Wirkung sozialer Medien und das Dilemma moderner Menschen, dringend auch noch ihre Freizeit optimieren zu wollen.
Zeit wird, schreibt Odell, «zu einer ökonomischen Ressource, die wir nicht länger guten Gewissens mit ‹nichts› vertun können». Und: «Ziviler Ungehorsam bedeutet in Zeiten der Aufmerksamkeitsökonomie, Aufmerksamkeit zu entziehen.» Wir sind also laut Odell nicht nur mit der Überforderung beschäftigt, sondern auch noch damit, ständig Grenzen ziehen zu müssen. Das gilt nicht nur für Social Media, sondern auch fürs Kulturangebot: Wir müssen Bücher weglegen, Serien abbrechen, Kinotickets nicht kaufen. Abwimmeln, Nein sagen, uns frei machen.
Niemand wird jemals sagen: Aber 30 Minuten länger, 100 Seiten mehr, das hätte schon gutgetan.
Auch angesichts dieser Erkenntnis ist es schliesslich gut, es mit der Länge nicht zu übertreiben. Denn wenn ein Roman statt 400 nur 200 Seiten hat, ist man schneller fertig. Wenn eine Inszenierung zwei statt viereinhalb Stunden dauert, ist man schneller wieder daheim. Wenns schlecht war, hat man nicht allzu viel Zeit verschwendet. Wenns gut war, wird niemand jemals sagen: Aber 30 Minuten länger, 100 Seiten mehr, das hätte schon gutgetan.
Andersherum: schon eher. Musste «Oppenheimer» zum Beispiel wirklich drei Stunden dauern? Nach gründlicher Überprüfung im Kino lässt sich sagen: Da gäbe es schon 30 Minuten, die man problemlos entfernen könnte, Christopher Nolan kann gern mal anrufen.
Längstes Musikstück der Welt soll 639 Jahre laufen
In der deutschen Stadt Halberstadt wird derweil auf einer Kirchenorgel gerade das längste Musikstück der Welt gespielt – John Cages «ORGAN²/ASLSP», was für «as slow as possible» steht. Slow bedeutet in dem Fall richtig slow, nämlich 639 Jahre. Die Aufführung begann 2001, sie läuft also bereits seit 22 Jahren und wird im Jahr 2640 beendet sein. Das ist so derart lang, dass man zwischendurch für ein paar Jahre nach Hause gehen, vielleicht ein Kind grossziehen und einen nicht allzu langen Roman schreiben und dann wieder bei der Orgel vorbeischauen kann.
John Cage wollte das Gegenteil von Optimierung: Man soll sich aufs Zuhören einlassen. Abwarten. Aushalten. Es gibt ein Zitat von ihm: «Im Zen heisst es: Wenn etwas nach zwei Minuten langweilig ist, versuche es für vier Minuten. Wenn es immer noch langweilig ist, für acht. Dann sechzehn. Dann zweiunddreissig. Schliesslich bemerkt man, dass es überhaupt nicht langweilig ist.» Sehr Zen. Aber leider nicht zwingend richtig.
Die Motivation hinter einem sehr langen Werk entspringt häufig nur der Unfähigkeit des Künstler-Egos, sich von mittelguten Ideen zu verabschieden.
Denn die Motivation hinter einem sehr langen Werk ist oft keine so edle wie die von John Cage. Sie entspringt häufig nur der Unfähigkeit des Künstler-Egos, loszulassen und sich von mittelguten Ideen zu verabschieden. Manche Autorinnen, Theaterregisseure oder Filmemacher glauben, durch die Länge eines Werkes auch dessen künstlerische Dimension untermauern zu können. Wer schreibt den schwersten Klotz am Büchertisch und hat somit am meisten zu sagen? Wer inszeniert am epischsten und hat die meisten Ideen?
Jerry Saltz, Kunstkritiker des «New York Magazine», plädiert in seinem Büchlein «How to be an artist» ebenfalls für beherzte Selbstbeschränkung und preist in dem Zusammenhang die Deadline, jenen institutionell oder vertraglich festgelegten Schlusspunkt vieler künstlerischer Beschäftigungen: «Deadlines are sent from heaven via hell», schreibt er, Deadlines sind himmlische Geschenke direkt aus der Hölle. Und wer keine Deadline hat, sollte sich gefälligst selbst eine setzen.
Im Theater ist «Die lange Inszenierung» aber fast schon ein eigenes Genre. Das ist nicht automatisch schlecht, natürlich nicht. Doch der Eindruck drängt sich auf: Es geht dabei immer auch darum, zu zeigen, dass man das machen kann, dass man den Raum bekommt, die Aufmerksamkeit. Länge als eine Art Fleissnachweis. Als sei Kunst nur etwas wert, wenn man sie unter grosser Anstrengung auf viel zu kleinen Theatersesselchen ersitzt.
Kurz und schmerzhaft
Dabei ist es viel schwerer, pointiert zu arbeiten. Dinge auf den Punkt zu bringen. Sich einzugestehen, dass man alles gesagt hat. Anders ist auch der weltweite Erfolg der Miniserie «Liebes Kind» (zum Streaming-Tipp) nicht zu erklären. Ein hoch konzentriertes Entführungs- und Psychodrama. Kurz und schmerzhaft.
«Schreiben ist leicht. Man muss nur die falschen Wörter weglassen.»
Einer der besten Romane des Jahres ist, passend dazu, «Gentleman über Bord», eine Wiederentdeckung aus dem Jahr 1937, jetzt erst auf Deutsch erschienen. Darin verhandelt der Autor Herbert Clyde Lewis alles, was das Leben ausmacht: Liebe, die Vergänglichkeit und das Meer. Auf gerade mal 176 Seiten. Wie heisst es doch bei Mark Twain: «Schreiben ist leicht. Man muss nur die falschen Wörter weglassen.»
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