Kulturkampf in den USAAbtreibungsgegner wittern grosse Chance
Die Konservativen am Obersten Gerichtshof der USA könnten das restriktive Abtreibungsgesetz von Mississippi für rechtens erklären – mit Folgen für alle Amerikanerinnen.
Der Oberste Gerichtshof der USA nimmt sich eines der umstrittensten Themen in der amerikanischen Politik an: Abtreibung. Das Gericht in Washington teilte mit, es werde ein Gesetz aus dem Bundesstaat Mississippi überprüfen, das so gut wie alle Schwangerschaftsabbrüche nach der 15. Woche verbietet.
Das Urteil des Supreme Court wird weitreichende Folgen für Frauen in den USA haben. Verwerfen die neun Richterinnen und Richter das Gesetz aus Mississippi, würde dadurch das Recht auf eine Abtreibung auf Jahrzehnte hinaus in höchster Instanz zementiert. Bestätigen sie es hingegen, kann das dazu führen, dass Millionen Amerikanerinnen keinen Zugang mehr zu einem sicheren, legalen Schwangerschaftsabbruch haben.
Die Rechtslage bei Abtreibungen ist nicht abschliessend geklärt: Schwangerschaftsabbrüche sind je nach Bundesstaat liberaler oder strenger geregelt. Vor allem in den konservativen, republikanisch regierten Staaten im Süden gibt es vielerorts Gesetze und Vorschriften, die es Frauen schwierig, manchmal praktisch unmöglich machen, eine Abtreibung machen zu lassen. Inwieweit diese Einschränkungen legal sind, ist nicht immer klar.
«Roe v. Wade»: Historisches Urteil von 1973
Denn das grundsätzliche Recht einer Frau auf einen Schwangerschaftsabbruch ist nicht durch ein eindeutig formuliertes Gesetz auf US-Bundesebene geregelt, sondern nur durch ein früheres Urteil des Obersten Gerichtshofs. Dieser hatte 1973 in einem Urteil, das als «Roe v. Wade» bekannt geworden ist, entschieden, dass die Verfassung allen Frauen in den USA, egal wo sie leben, das Recht auf eine Abtreibung gibt.
Die Regierung darf diese freie, persönliche Entscheidung nicht einschränken, zumindest nicht im ersten Trimester der Schwangerschaft. Im zweiten Trimester sind nur medizinisch begründbare Beschränkungen erlaubt. Pauschale Abtreibungsverbote, wie es sie in manchen Bundesstaaten gab, wurden durch «Roe v. Wade» rechtswidrig.
Seither kämpft ein grosser Teil des rechten politischen Lagers, angeführt von christlich-konservativen Organisationen, in den USA dafür, dieses Urteil wieder zu kippen. Das politisch linke Lager hingegen verteidigt es erbittert.
Kaum eine Entscheidung des Supreme Court ist auch nach fünf Jahrzehnten noch so umstritten wie «Roe v. Wade». Kaum ein anderes Urteil hat die Gräben in der Politik so vertieft. Und kaum ein anderes Thema wird von linken wie rechten Wahlstrategen so skrupellos ausgenutzt, um Wähler zu mobilisieren, politische Gegner zu dämonisieren und Spenden zu sammeln.
Die Folge: Die Frage, ob eine Person «pro-life» ist (also gegen Abtreibungen) oder «pro-choice» (für das Recht einer Frau, sich für eine Unterbrechung der Schwangerschaft zu entscheiden), markiert inzwischen eine der wichtigsten und am härtesten umkämpften Frontlinien im «Kulturkrieg», der die amerikanische Gesellschaft seit Jahren zerreisst.
Eine Strategie, die rechte Organisationen gezielt anwenden, um «Roe v. Wade» zu revidieren, ist, einen weiteren Fall vor den Supreme Court zu bringen – in der Hoffnung, dass das Gericht heute anders entscheidet als 1973 und das landesweite Abtreibungsrecht wieder zurücknimmt. Dann könnten zumindest einzelne Bundesstaaten dazu zurückkehren, Schwangerschaftsabbrüche zu verbieten.
Diesem Ziel sind die Abtreibungsgegner jetzt näher gekommen. Das Gesetz aus Mississippi, das Abtreibungen nach der 15. Woche fast komplett verbietet, war im Kern nichts anderes als eine juristisch-politische Provokation: Es wurde mit Absicht so formuliert, dass es den in «Roe v. Wade» festgelegten Regeln widerspricht. Diese lassen Abtreibungen bis in den sechsten Monat hinein zu.
Bundesgerichte haben deswegen bisher verhindert, dass das 15-Wochen-Gesetz in Mississippi sowie weitere, noch schärfere Gesetze in Kraft getreten sind. Der Supreme Court hätte es bei den Entscheidungen dieser niedrigeren Instanzen belassen können. Doch die Richter entschieden sich, den Fall anzunehmen.
Supreme Court entscheidet nächstes Jahr
Nach diesem ersten Erfolg hoffen die Abtreibungsgegner nun auf einen weiteren – dass nämlich die Richter ein Urteil fällen, das «Roe v. Wade» kippt. Diese Hoffnung gründen sie auf die Zusammensetzung des Gerichts: Von den neun Richterinnen und Richtern gelten sechs als politisch konservativ, drei als eher liberal.
Da das Gericht Urteile per Mehrheitsentscheidung fällt, gibt es zumindest in der Theorie eine nennenswerte Chance, dass «Roe v. Wade» verändert oder zurückgenommen wird. Die Abtreibungsgegner zählen dabei vor allem auf Richterin Amy Coney Barrett, eine überzeugte Katholikin, die voriges Jahr die verstorbene linksliberale Ikone Ruth Bader Ginsburg am Supreme Court ersetzt hat. Dadurch wurde die Mehrheit der Konservativen von fünf zu vier ausgebaut zu einer solideren Mehrheit von sechs zu drei.
Bis der Supreme Court das Urteil fällt, wird es noch einige Monate dauern. Die Verhandlung ist für den Herbst geplant, die Entscheidung wird im Frühjahr oder Sommer 2022 fallen – gerade rechtzeitig, um den Kongresswahlkampf im kommenden Jahr mit einem Streitthema aufzuheizen.
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