30 Jahre Letten-RäumungZürich hat die Drogenszene unter Kontrolle. Das ist keine Selbstverständlichkeit
Die Letten-Schliessung im Jahr 1995 markierte die Wende. Heute ist Zürichs Drogenpolitik international ein Vorbild. Die Ruhe kann aber trügerisch sein.
![Menschen sitzen inmitten von Müll und Abfall auf einer Parkbank, einige schauen nach unten, während andere beschäftigt wirken. Die Umgebung wirkt vernachlässigt.](https://cdn.unitycms.io/images/9-90EFll4nOBLvORu8V1Vx.jpg?op=ocroped&val=1200,800,1000,1000,0,0&sum=LGDs9c0ZHZg)
Es bräuchte wenig, und Zürich hätte wieder eine offene Drogenszene. Wie labil das Gleichgewicht ist, zeigte sich im Sommer 2023, als die Kontakt- und Anlaufstelle (K&A) im Kreis 4 temporär schloss. Prompt versammelten sich Gruppen von Abhängigen in der Bäckeranlage. Um die tausend Drogenabhängige gehen heute regelmässig in den drei Zürcher K&A ein und aus, wo sie in einem geschützten Rahmen Heroin spritzen oder Crack rauchen und sogar kleinere Mengen dealen können.
30 Jahre nach der Letten-Schliessung am 14. Februar 1995 sind Sucht und harte Drogen in Zürich noch immer präsent, aber das grosse Elend ist beseitigt. Abhängige können dank einer umsichtigen Drogenpolitik ein menschenwürdiges Leben führen, und grosse Ansammlungen in der Öffentlichkeit, die immer auch eine Sogwirkung haben, gibt es kaum.
Undenkbar, dass ein bemitleidenswerter Süchtiger in eine Baumkrone klettert, dort stirbt und seine schon halb verweste Leiche erst nach Tagen gefunden wird – so wie das im Sommer 1994 beim Letten geschah.
Die erste Schliessung war ein Debakel
Ab 1989 konsumierten im Platzspitzpark bis zu 3000 Menschen aus ganz Europa Drogen. Um der wachsenden Kriminalität und dem Elend entgegenzutreten, räumten die Behörden 1992 den Park. Es war ein Debakel.
Die Abhängigen irrten fortan durch die Wohnquartiere, Heroindealer sprachen Buben und Mädchen an. Die Stadt hatte ein Einsehen und duldete schliesslich die neue Szene am Letten. Polizisten wussten nicht weiter: Egal, wie viele Dealer sie festnahmen, auf das Stoffangebot in der Szene hatte es keinen Einfluss. Im Sommer 1994 eskalierte die Situation, innerhalb eines Monats kam es zu vier Tötungsdelikten auf dem Letten.
![Zwei Menschen knien auf einem Betonboden. Eine Person hilft der anderen. Um sie herum liegen verstreute Gegenstände, darunter eine Zeitung und Spritzen.](https://cdn.unitycms.io/images/0B6obkUPKtB9henduzjBBO.jpg?op=ocroped&val=1200,800,1000,1000,0,0&sum=eY5hOn1TZXY)
Die Bilder von damals haben sich ins kollektive Gedächtnis der Zürcherinnen und Zürcher eingebrannt.
Das Trauma hat Zürich seit den 1990er-Jahren auf den Weg einer progressiven Drogenpolitik gebracht. Sie fusste auf der Erkenntnis: Sucht und Drogen lassen sich nicht ganz verhindern, aber Schaden lässt sich begrenzen. Entsprechend rückte Schadensminderung ab Anfang der 1990er-Jahre in den Fokus der Politik, die erste K&A wurde eröffnet. Diese unterstützenden Massnahmen nahmen fortan eine zentrale Rolle ein im seit 1994 etablierten Vier-Säulen-Modell, zu dem auch Prävention, Therapie und Repression gehören. Einige Jahre nachdem der Letten geschlossen worden war, griff das Modell. Eine offene Drogenszene hat sich seither nicht mehr etabliert.
Bis dahin war es aber ein langer Weg. Bund und Kanton betrachteten die Drogenmisere zunächst als ein hausgemachtes Zürcher Problem. Emilie Lieberherr (SP), Zürichs erste Stadträtin und langjährige Sozialvorsteherin, hatte sich schon früh für Fixerstübli mit Duldung des Kleinhandels starkgemacht. Vom Stadtrat und 1990 schliesslich auch in einer Volksabstimmung wurde die Idee allerdings verworfen.
Eine der grössten sozialen Katastrophen der Schweiz führte schliesslich dazu, dass Politik, Behörden und Fachleute ideologische Gräben überwinden und sich auf einen pragmatischen Weg einigen konnten. Die Letten-Räumung markierte diesen Wendepunkt.
Zwei Fälle von Fentanyl in Zürich
Das einst von weit linker Seite ersonnene Vier-Säulen-Modell greift bis heute, aber ein Selbstläufer war es noch nie. Es ist die Aufgabe von Politik, Fachleuten und Behörden, die Massnahmen an das sich verändernde Suchtverhalten anzupassen.
In Zürich ist in zwei Fällen das gefürchtete synthetische Opioid Fentanyl nachgewiesen worden. Ein Problem zeigt sich auch am HB Zürich, wenn dort Abhängige mit Diaphin dealen, das ihnen eigentlich als Heroin-Substitution ärztlich verschrieben wurde. Die Politik muss sich auch die Frage stellen, was Drogenverbote als Teil des Vier-Säulen-Modells bringen, wenn sie selbst mit grösstem Aufwand nicht durchgesetzt werden können.
Heute geniesst dieses pragmatische Modell einen breiten Konsens. Selbst jene rechten Parteien, die für Law and Order eintreten, stellen es nicht infrage. Man kann den Erfolg auch daran messen, wie das Ausland auf Zürich schaut. Fachstellen aus Frankfurt, Lissabon und Mexiko-Stadt laden Zürcher Delegationen ein, um mehr über das Vier-Säulen-Modell zu erfahren. Deutsche Leitmedien berichten im Zuge der aktuellen Verbreitung von Crack über die Erfolgsgeschichte Zürichs. Denn auch Zürich wurde von der Crack-Welle erfasst, aber eine offene Szene gibt es kaum.
Etwas mehr als sieben Millionen Franken lässt sich Zürich die drei K&A-Standorte pro Jahr kosten. Diesen Betrag stellt heute zum Glück niemand mehr infrage. Gerieten die Abhängigen erneut auf die Strasse, hätte das weitreichende Folgen: menschliches Elend, mehr Polizeieinsätze, ein beschädigtes Stadtimage und erhebliche wirtschaftliche Kosten.
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