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Bankräuber, Fluchtkünstler, YB-Spieler
Marco Müllers Leben wäre Stoff für eine Netflix-Serie

Seine Schnelligkeit auf dem Spielfeld kam ihm auch bei den Fluchtversuchen zugute: Marco Müller auf einem undatierten Fahndungsbild.

Die letzte Spur von Marco Müller war das blutige Oberteil seines Trainingsanzugs. Die Berner Kantonspolizei fand das Kleidungsstück am Samstag, dem 8. August 1988, zwei Kilometer von der Justizvollzugsanstalt Thorberg entfernt, am Waldrand liegen. Am Morgen jenes Tages gelang dem verurteilten Bankräuber und Ex-YB-Spieler auf spektakuläre Weise die Flucht aus dem berühmtesten Gefängnis im Staate Bern.

Müller hatte Hofgang, als er mithilfe zweier Seile und einer Wolldecke die vier Meter hohe und mit Stacheldraht gesicherte Mauer überwinden konnte. Alles sei «blitzschnell» gegangen, sagte der damalige Vizedirektor des Thorbergs später den Medien. Die Polizei vermutete, dass Müller Komplizen hatte, die ihn am Waldrand mit einem Auto abholten.

Libanesische Polizei involviert

Die Ermittlungsbehörden schrieben den Geflüchteten umgehend international zur Fahndung aus. Lange Zeit passierte nichts. Bis am 23. Dezember 1996 in der libanesischen Hauptstadt Beirut tatsächlich ein Marco Müller festgenommen wurde.

Wie die libanesische Polizei aber bereits am Tag darauf feststellen musste, handelte es sich bei diesem Mann jedoch nicht um den von Interpol gesuchten Bankräuber, sondern um den damaligen Direktor des Filmfestivals Locarno. Dieser hatte nicht nur denselben Namen, sondern auch dasselbe Geburtsjahr wie Marco Müller.

Vom Zug überfahren

Vom «Gangster jurassien», wie er in den Schweizer Medien genannt wurde, fehlte aber seit seiner spektakulären Flucht jede Spur. Der Bankräuber, der bei seinen Überfällen über drei Millionen Franken erbeutete, verschwand allmählich aus dem öffentlichen Bewusstsein und später auch von den internationalen Fahndungslisten. Aufgrund der Verjährung seiner Strafe – er wurde 1981 zu 13 Jahren und 1988 zu weiteren 7 Jahren Gefängnis verurteilt – stellten die Behörden die Suche nach ihm kurz nach der Jahrtausendwende ein.

Nun bringt ein fast schon unglaublicher Treffer bei einer DNA-Fahndung Müllers Name wieder in die Schlagzeilen.

Romano Schäfer ist in der Strafanstalt Thorberg verwahrt. © Adrian Moser / Tamedia AG

Am Montag, dem 26. Februar 2024, kollidierte beim Dorfeingang des jurassischen Dorfes Bassecourt ein Zug mit einer Person. Der Unbekannte verlor beim Unfall auf der Stelle sein Leben. Laut der Kantonspolizei Jura hatte der Mann kurze, ergraute Haare, wog circa 100 Kilogramm und trug zum Zeitpunkt seines Todes eine Brille, ein dunkelblaues Cap sowie eine Fleecejacke mit dem Logo einer im Kanton Luzern beheimateten Chemiefirma. Drei Wochen später ist mittlerweile klar: Bei diesem Mann handelte es sich um Marco Müller.

Ja, sie seien sich zu 100 Prozent sicher, sagt Charlotte Wernli von der jurassischen Staatsanwaltschaft auf Anfrage. Die Leiche sei zugleich der erste Anhaltspunkt, dass sich Müller noch in der Schweiz aufgehalten habe. «Wir haben bisher keine Erklärung dafür, wie er so lange unerkannt bleiben konnte», so Wernli. Ob und wann dieses Mysterium aufgeklärt wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch unbekannt. Sicher ist, dass Müller am selben Ort gestorben ist, wo er auch das Licht der Welt erblickte: im 3492-Seelen-Dorf Bassecourt.

7 Minuten für die Ewigkeit

Bevor Müller eine Karriere als Bankräuber einschlug, war er ein talentierter Fussballer. In der Saison 1972/73 gehörte er zum Kader des BSC Young Boys. Hanspeter Latour, der damals bei YB das Tor hütete, kann sich noch an den Jurassier erinnern. Neben dem Spielfeld sei er ein eher schüchterner Typ gewesen. Auf dem Rasen aber sei er schnell, wendig, zäh und hartnäckig im Zweikampf gewesen. «Er hat mit uns in der ersten Mannschaft trainiert, war aber ein Ergänzungsspieler», so Latour.

Im YB-Archiv findet Müllers Name eine einzige Erwähnung. Am 9. September 1972 spielten die Young Boys zuhause im Wankdorfstadion vor 12’000 Zuschauerinnen und Zuschauer gegen den FC Zürich. Es steht 0:1 aus Sicht der Gastgeber, als Marco Müller in der 83. Minute für Pierangelo Boffi eingewechselt wird. Es sollten die einzigen sieben Pflichtspiel-Minuten in seiner kurzen YB-Karriere sein.

Hanspeter Latour, ex-FC-Thun-Trainer  im Lachenstadion Thun. Foto: Susanne Keller

Sechs Jahre danach landete Müller seinen ersten Coup, als er die Berner Kantonalbank in seinem Heimatdorf Bassecourt um 23’000 Franken erleichterte. Es folgten mindestens fünf weitere Überfälle auf Banken und auch Geldtransporter.

Wie er bei seinen Überfällen vorging, wurde in einem detaillierten Artikel in der mittlerweile eingestellten Zeitung «L’Impartial» im Jahr 1982 nachgezeichnet. Vom 31. März auf den 1. April 1980 stürmte Müller gemeinsam mit drei Komplizen nachts das Haus des damaligen UBS-Bankdirektors von Le Locle. Dieser klärte Müller auf, dass er die Banktresore nur gemeinsam mit dem Kassier der Bank öffnen könne.

Ein Komplize hielt in Folge die Frau des Bankdirektors als Geisel fest, während Müller mit ihm zuerst zum Kassier und dann zur Bank weiterfuhr. In den Tresoren erbeutete er 250’036 Franken sowie Travellerchecks im Wert von 95’000 Franken. Die Kantonspolizei Neuenburg fand den Bankdirektor später in dessen Haus, wo er gemeinsam mit seiner Frau sowie dem Kassier an ein Bett gefesselt war.

Die Ermittler sahen Müller schon damals als den klaren Kopf der Bande. Seine Komplizen – die er laut «L’Impartial» vom gemeinsamen Fussballspielen kannte – waren laut der Kapo Neuenburg bloss «Strohmänner», die vor allem ihren Anführer beeindrucken wollten. Obwohl er ihnen im Voraus nichts versprach, teilte Müller rund die Hälfte der Beute vom Banküberfall von Le Locle mit ihnen und lud sie zusätzlich in die Ferien ein.

Der letzte Ausbruch war 2002

Müller konnte 1981 ein erstes Mal gefasst werden. Bereits drei Monate später konnte er aber ein erstes Mal fliehen. In seiner Abwesenheit wurde Müller vor Gericht zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt. Der jurassischen Polizei schenkte er laut der Zeitung «Le Quotidien» im Anschluss an seinen ersten Prozess eine Kiste Cognac zu Weihnachten.

Im Oktober 1987 wurde Müller dann bei der Einreise von Guadeloupe am Flughafen Paris-Orly erneut verhaftet. Die französischen Behörden lieferten ihn an die Schweiz aus, wo dem Bankräuber nach neun Monaten Haft die zweite Flucht gelang. Im November 1988 wurde Müller – wiederum in Abwesenheit – zu sieben weiteren Jahren Gefängnis verurteilt.

Auch wenn die Geschichte nach heutigen Massstäben schier unglaublich klingt, waren zumindest Ausbrüche aus Gefängnissen vor dem digitalen Zeitalter keine Seltenheit. Laut Ulrich Zwahlen, Präsident des Museumsvereins Krauchthal, gab es solche Vorfälle bis zur Jahrtausendwende regelmässig. 2020 präsentierten er und sein Verein eine Sonderausstellung zur Geschichte der Justizvollzugsanstalt Thorberg, wo es auch um die zahlreichen Ausbrüche ging.

Ulrich Zwahlen. Ausstellung im Museum Krauchthal, die Haushaltgegenstände von früher zeigt. Foto: Beat Mathys / Tamedia AG.

«Früher sind die Gefangenen oft während der landwirtschaftlichen Arbeit einfach davongelaufen», so Zwahlen. Auch das Durchtrennen von Gitterstäben oder das Abseilen mit selbst gebastelten Hilfsmitteln waren beliebte Fluchtwege. Immer wieder führten diese Versuche jedoch auch zu schweren und teils tödlichen Unfällen.

Mit den technologischen Überwachungsmöglichkeiten von heute sind Fluchtversuche praktisch unmöglich geworden. Der letzte Ausbruch aus dem Thorberg fand im Jahr 2002 statt.