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Prozess um toten Säugling
«Wir werden wohl nie herausfinden, was passiert ist»

Um den Tod des Buben aufzuklären, verwanzte die Polizei die Wohnung der Eltern. Als ihr zweites Kind ein Schütteltrauma erlitt, schleuste sie verdeckte Ermittler in das Leben der Familie ein. Das Gericht befragte diese via Video hinter Milchglas und mit verzerrter Stimme. Und kam nun zum Schluss, ihr Einsatz sei «verhältnismässig» gewesen. Den Beschuldigten (oben links) sprach es frei.
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Hat Thomas Hauser (Name geändert) seinem neugeborenen Sohn zahlreiche Rippen gebrochen? Und ihn acht Wochen nach seiner Geburt zu Hause im Wohnzimmer erstickt? Und ist er auch verantwortlich für das Schütteltrauma der sieben Wochen alten Tochter gut eineinhalb Jahre später? (Lesen Sie hier den Bericht vom  Gerichtsprozess.)

Für das Richteramt Dorneck-Thierstein ist klar: Thomas Hauser, der heute 34-jährige Solothurner, kann es gewesen sein. Oder auch nicht. Es hat ihn deshalb am Donnerstag von allen Vorwürfen freigesprochen.

Das Schicksal der beiden Kinder mache betroffen, sagte Amtsgerichtspräsidentin Georgia Marcionelli Gysin gleich zu Beginn der Urteilsverkündung. Aber man habe «erhebliche und nicht zu unterdrückende Zweifel», ob Thomas Hauser die Taten begangen habe. Der Freispruch erfolge «in dubio pro reo», also «im Zweifel für den Angeklagten».

«Falls es Fremdeinwirkung war, stellt sich die Frage, wer dafür verantwortlich ist. Nur die Eltern kommen in Betracht.»

Gerichtspräsidentin Georgia Marcionelli Gysin

Das Gericht sieht es als erwiesen an, dass der acht Wochen alte Bub im Juli 2010 erstickt ist. Ob Fremdeinwirkung vorlag, konnte es allerdings nicht abschliessend klären. Will heissen: Die Atemwege des Buben könnten theoretisch auch «von einem Stofftier oder Nuschi im Laufgitter» verdeckt worden sein, wie die Gerichtspräsidentin es formulierte. «Falls es Fremdeinwirkung war, stellt sich die Frage, wer dafür verantwortlich ist. Nur die Eltern kommen in Betracht.» Wer von beiden es gewesen sei, liesse sich allerdings nicht zweifelsfrei beweisen.

Beim sieben Wochen alten Mädchen steht für das Richteramt Dorneck-Thierstein zweifelsfrei fest, dass es geschüttelt worden ist. Und dass dafür nur der Vater oder die Mutter verantwortlich sein kann. Doch auch hier ist das Gericht «nicht überzeugt, dass der Beschuldigte der Täter sein muss». Auch die «psychisch auffällige» Mutter – ihr Strafverfahren wurde 2017 eingestellt – könne es gewesen sei. Man habe «allgemein Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit». Die Aussagen des Vaters seien «konstant und authentisch».

Genugtuung von 65’000 Franken für den Vater

Er erhält vom Richteramt Dorneck-Thierstein eine Genugtuung von 65’000 Franken zugesprochen, unter anderem für die insgesamt 99 Tage in Untersuchungshaft sowie die Observation, die Telefonüberwachung und die umfangreichen verdeckten Ermittlungen. Laut den Verteidigern der mittlerweile geschiedenen Eltern und namhaften Rechtsexperten überschritten Letztere die Grenze des Zulässigen deutlich. (Lesen Sie hier die Recherche zu den verdeckten Ermittlungen.)

Das Gericht erachtet die verdeckten Ermittlungen als grundsätzlich verhältnismässig. Es gebe zwar einzelne Situationen, in denen sich «die Ermittler in einer Grauzone bewegt» hätten – etwa als einer dem Vater erzählte, er habe einem Model versehentlich das Genick gebrochen. Dies, um beim Beschuldigten eine Reaktion zu erzielen. Doch weil die Ergebnisse der Ermittlungen nicht ins Gewicht fielen, sei dies unerheblich, so das Gericht. Auch auf vernehmungsähnliche Situationen – was unzulässig wäre – gebe es «keine Hinweise».

Während des dreitägigen Gerichtsprozesses sprach der Beschuldigte (links im Bild) kein Wort. Zur Urteilsverkündung erschien er mit kurz geschorener Frisur und abrasiertem Bart.

Staatsanwalt Raphael Stüdi hatte eine Freiheitsstrafe von 16,5 Jahren für den Beschuldigten gefordert. Entsprechend enttäuscht ist er über das Urteil: «Ich bin der Ansicht, dem Gericht gute Argumente vorgelegt zu haben. Aber die Indizien waren in der Summe offenbar zu wenig stark.» Stüdi will voraussichtlich Berufung gegen das Urteil einlegen. Er wertet es als «positives Zeichen», dass das Gericht die Verhältnismässigkeit der verdeckten Ermittler nicht angezweifelt hat. «Ich bin davon überzeugt, dass die Ermittlungen einen wesentlichen Beitrag geleistet haben, die Kindsmutter von den Vorwürfen zu entlasten.»

Eveline Roos, die Verteidigerin des angeklagten Vaters, ist hingegen «extrem erleichtert» über das Urteil. «Ich würde meinem Klienten wünschen, dass es jetzt endlich vorbei ist. Er kann nicht weiterleben, bis das Strafverfahren ganz zu Ende ist.» Mittlerweile laufe es seit zehneinhalb Jahren. Auch er selber sei sehr erleichtert. Wirklich realisiert habe er das Urteil aber noch nicht.

Was ist mit dem acht Wochen alten Bub passiert? Wer hat das sieben Wochen alte Mädchen geschüttelt? Die Mutter? Oder doch der Vater, der während des dreitägigen Gerichtsprozesses kein einziges Wort sprach?

«Niemand zweifelt daran, dass den beiden Kindern Schreckliches widerfahren ist», sagte die Gerichtspräsidentin. «Wir werden wohl nie erfahren, was passiert ist. Aber wer auch immer für den Tod verantwortlich ist, wird bis an sein Lebensende damit leben müssen.»