Ewige SportmomenteWie sich Hingis zur «Queen Martina II» krönt
1997 wird für Martina Hingis zum Traumjahr. Neben drei Grand-Slam-Titeln lernen sie und ihre Mutter aber auch die Schattenseiten des Erfolgs kennen.
Es ist 16.01 Uhr in London an diesem 5. Juli 1997. Ein sommerlicher Samstag in Wimbledon, dem Finaltag der Frauen. Jana Novotna ist ihrem zweiten Aufschlag eben ans Netz gefolgt, der starke Return von Martina Hingis landet in ihren Füssen. Die blonde Tschechin bringt ihren Volley zwar noch ins Feld. Sie muss dann aber machtlos wie in Zeitlupe zuschauen, wie Hingis einen weiteren Passierball an ihr vorbei zirkelt, diesmal mit der Vorhand, extrem cross und mit viel Topspin geschlagen. Für Novotna unerreichbar senkt er sich ins Feld. Game, Set and Championship, Hingis. 2:6, 6:3, 6:3.
Es ist der Tag, an dem die junge Gipfelstürmerin den wichtigsten Titel ihrer Karriere holt und mit 16 Jahren und 278 Tagen jüngste Wimbledon-Siegerin des Jahrhunderts wird, die bisher einzige aus der Schweiz. Ein Sieg, nach dem ihre Mutter Melanie Molitor im «Tages-Anzeiger» sagen wird: «Sie hat gewonnen, weil sie in Freiheit erzogen worden ist. Die wichtigen Entscheidungen hat sie immer selbst getroffen, denn auf dem Platz hilft ihr ja auch niemand. Sie hat keine Angst.»
Die Sternstunde hat sich nicht abgezeichnet. Es ist auch mehr als Gag gedacht, dass sich Hingis vor dem Turnier in Wimbledon in einem Kostüm fotografieren lässt, wie es Lottie Dod 1887 getragen hat, die bei ihrem Sieg in Wimbledon noch jünger war als nun Hingis. Denn die zwölf Jahre ältere Offensivspielerin Novotna, die den Wimbledon-Titel ein Jahr später nachholen wird, gilt als klar bessere Rasenspezialistin. Und gewinnt den ersten Satz in nur 22 Minuten. Aber nun wird Hingis aggressiver, gleicht aus, fällt im Entscheidungssatz aber wieder 0:2 zurück. Sie schmettert ihr Racket auf den heiligen Rasen, holt ein anderes – und blickt nicht mehr zurück. Sie zieht auf 5:2 davon, verwertet nach 1:50 Stunden ihren zweiten Matchball, jubelt. Sie hat in der ganzen Partie nur zwei Ballwechsel mehr gewonnen.
«Vielleicht bin ich einfach noch zu jung für diesen Titel und werde erst später alles richtig realisieren», sagt Hingis. Und auch: «Im Final spielte ich schon gut. Aber ich dachte immer, ich könne noch mehr zeigen.» Sie ist in diesem Jahr der Konkurrenz dermassen überlegen, dass sie auch an weniger guten Tagen fast alle schlägt. Es braucht schon äussere Umstände, damit sie überhaupt einmal verliert. Dass sie 1997 nicht alle vier Majorturniere gewinnt und den Grand Slam schafft, dürfte nur die Folge eines Reitunfalls sein.
Denn auch vor und nach Wimbledon folgt für die «Can’t Miss Swiss», die unfehlbare Schweizerin, ein Höhepunkt auf den anderen. Am 25. Januar schlägt sie im Final des Australian Open Mary Pierce 6:2, 6:2 und gewinnt ihren ersten Grand-Slam-Titel. Bereits im Februar steht fest, dass sie Steffi Graf, die am Knie verletzt ist, als (noch immer jüngste) Nummer 1 ablösen wird. Am 31. März, einem Ostermontag, ist es so weit. Nach dem Australian Open und Wimbledon gewinnt sie am 7. September auch ihr erstes (und einziges) US Open, mit einem Finalsieg über Venus Williams. Als die Saison vorüber ist, hat sie 12 von 17 Turnieren und 80 von 85 Partien gewonnen.
Dazwischen kommt es in der Sandsaison aber zur Zäsur. Am 21. April stürzt sie – unspektakulär – von einem fremden Pferd, erleidet dabei einen Teilriss des hinteren Kreuzbandes am linken Knie und muss operiert werden. Trotz mangelhafter Vorbereitung stürmt sie darauf aber auch am French Open mit einem Marathonsieg über Monica Seles (6:7, 7:5, 6:4) ins Endspiel. Sie hat dabei aber zu viel Energie verbraucht und muss im Final gegen Iva Majoli ihre erste Niederlage des Jahres nach 40 Siegen hinnehmen.
Mehrere Porsches, bevor sie Autofahren darf
Schon vor ihrem 17. Geburtstag ist Hingis die unumstrittene Königin der Tenniswelt – Queen Martina II, nach Martina Navratilova, nach der ihre Mutter ihr den Vornamen gab. Ihr Leben neben den Courts ändert sich in diesem Jahr massiv. Im Sommer bezieht sie eine 2,5-Millionen-Villa in Regensdorf mit Hallenbad. «Märchenschloss», titelt der «Blick». Sie besitzt eigene Pferde, und in ihrer Tiefgarage stehen schon mehrere Porsches, bevor sie Autofahren darf.
Vor dem Saisonfinale in New York, wo sie im zweiten Spiel ausscheidet, wird sie in den USA als Wunderkind herumgereicht. Sie absolviert einen Medienmarathon am Broadway, erscheint im Armani-Smoking zur Talkshow von David Letterman. Dabei entzückt sie die Medien auch ohne Racket mit Spontaneität, Inspiration und Schalk. Zu Letterman sagt sie: «Mit elf gewann ich erstmals gegen meine Mutter. Heute würde ich sie wohl mit links schlagen.» Gelegentlich wird sie als «smiling assassin» apostrophiert – die lächelnde Mörderin.
Ende Jahr wird sie Botschafterin der Weltgesundheitsorganisation (WHO), während ihr die International Management Group (IMG) ein stolzes Sponsoringpaket geschnürt hat, zu dem Opel, Sergio Tacchini, Omega, Yonex und San Pellegrino gehören. Ihr Jahreseinkommen wird auf 10 Millionen Dollar geschätzt. «Natürlich hoffe ich, im Tennis bei den Jungen so viel bewegen zu können wie Tiger Woods im Golf», sagt Hingis. Die «Weltwoche» feiert sie im März – etwas voreilig – als «das grösste Schweizer Tenniswunder aller Zeiten». Roger Federer ist zu diesem Zeitpunkt bereits 15.
Hingis eilt schon als Primarschülerin der Ruf voraus, ein Tennis-Phänomen zu sein. Als 9-Jährige wird sie Schweizer Meisterin der 14-Jährigen, mit 12 gewinnt sie das Juniorenturnier in Roland Garros, und mit 15 feiert sie in Wimbledon im Doppel mit Helena Sukova ihren ersten Grand-Slam-Titel. Doch sie lernt auch rasch die Schattenseiten des Erfolgs kennen. Als im Frühling 1997 im Fed-Cup eine Reise in ihre Geburtsstadt Kosice ansteht, wo ihr leiblicher Vater Karol lebt, rückt ihr Privatleben schonungslos ins Zentrum. Ihre Mutter, früher selbst Tennisprofi, ist 1988 in die Schweiz gekommen, wo sie anfänglich mit dem Rheintaler Andreas Zogg verheiratet ist. 1997 ist sie bereits mit dem «Blick»-Sportreporter Mario Widmer liiert.
Während Wimbledon 1997 wühlen britische Reporter besonders intensiv in ihrer Vergangenheit und sind dabei auf der Suche nach Schlagzeilen bei der Wahrheit nicht immer pingelig. Die Beziehung von Hingis und ihrer Mutter zur neuen Heimat ist lange angespannt. Einmal klagt Melanie Molitor: «Bei Patty (Schnyder) ist immer alles positiv, bei uns nicht. Sie (Martina) ist immer die Ausländerin.» Sie stört sich an den «Storys vom armen Vater ohne Geld, und weshalb wir ihn nicht unterstützen». Ende 1997 – im dem sie zur «Trainerin des Jahres» gewählt wird – bekennt sie: «Wir müssen uns abschirmen, sonst würden wir verrückt.»
«Weltstar mit Mutterschutz»
Hingis sei ein «Weltstar mit Mutterschutz», schreibt das Magazin «Focus» folgerichtig. Dabei gehört Melanie Molitor nicht zur prominent und dicht besetzten Kategorie ehrgeiziger Tenniseltern, die ihre Kids erbarmungslos zum Erfolg trimmen. Für sie steht immer der Mensch im Vordergrund. «Ich sagte Martina, dass es meine Liebe zu ihr nicht beeinflussen würde, ob sie Tennisstar oder Stallmädchen würde», sagt sie einmal.
Und Martina weiss gut, was sie an ihrer Mutter hat. «Sie lehrt mich immer wieder Durchhaltewillen und Disziplin», sagt sie 1997. «Sie bereitet mich auf jeden Match sehr gut vor. Technisch konnte sie mir immer sehr viel helfen. Taktisch eigentlich viel weniger. Denn ich habe schon als kleines Mädchen meinen eigenen Kopf entwickelt.» Vor allem dank diesem kann sie sich schon mit 16 auf den Tennisthron hieven und die Geschichte ihres Sports neu schreiben.
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