Wie Kinder «artgerecht» aufwachsen
Nicht nur Kälber und Hasen, sondern auch Menschenkinder sollen so aufwachsen, wie es ihrer Art entspricht, finden die Anhänger der Artgerecht-Bewegung. Miriam Hess lebts mit ihrer Familie vor – in der Stadt Zürich.

Behandelt man Babys des Internetzeitalters wie Steinzeitbabys, entwickeln sie sich am besten, sind die Vertreterinnen des Artgerecht-Projekts überzeugt. Ein Baby soll getragen und gestillt werden, windelfrei sein und bei den Eltern schlafen dürfen. Und Kinder sollten in einer Gemeinschaft von vertrauten Menschen aufwachsen, die Zeit für sie haben. Das sind nur einige Themen des Artgerecht-Projektes. Die Verhaltensbiologie des Menschen habe sich seit der Steinzeit kaum geändert, sind die Vertreterinnen des Projekts überzeugt – trotz der massiven Veränderungen in den letzten Jahrhunderten.
Ein Baby alleine in einem Zimmer schlafen zu lassen, ist demnach nicht artgerecht. Denn das Kind weiss nicht, dass die 3-Zimmer-Wohnung sicher ist – es hat Angst vor wilden Tieren. Darf es bei den Eltern schlafen, fühlt es sich geborgen. Oder: Da Menschen im Vergleich zu anderen Säugetieren zu früh und unreif auf die Welt kommen, sind Stillen und Tragen die natürliche Fortsetzung der Schwangerschaft, also artgerecht.
Happy Families – Happy Planet
Dass ein Baby seine Ausscheidungen nicht loswerden darf, sondern in der Windel mit sich herumtagen muss, ist unnatürlich. Ein Kind artgerecht aufziehen bedeutet, auf die Signale des Babys zu achten und es über einen Eimer oder Ähnliches zu halten, wenn es mal muss. «Das funktioniert tatsächlich!», sagt Artgerecht-Coach Miriam Hess, die in einem Zürcher Gemeinschaftszentrum Windelfrei-Workshops anbietet.
"Bei artgerecht geht es darum, sich klar zu machen, warum Kinder so ticken wie sie ticken."
«Bei ‹artgerecht› geht es darum, sich klar zu machen, warum Kinder so ticken wie sie ticken», erklärt Miriam Hess. Man geht davon aus, dass die Bedürfnisse des Kindes evolutionär bedingt sind – und geht darauf ein. Dadurch entstehe eine sichere Bindung zwischen Kind und Eltern. Artgerecht leben bedeute auch, mehr auf die natürlichen Mutter- oder Vaterinstinkte zu hören, sagt Hess. «Wir haben ein bisschen den Bezug zu uns selbst verloren.»
Ein wichtiger Aspekt im Artgerecht-Projekt ist zudem der Umweltgedanke: Ein Kind, mit dem man sorgsam umgeht, wird auch sorgsam mit der Natur umgehen. Ganz nach dem Motto: «Happy Families – Happy Planet».
Für mehr Gemächlichkeit
Das Artgerecht-Projekt ist auch eine Kritik an der heutigen Leistungsgesellschaft. «Das hektische, hauptsächlich auf Leistung getrimmte Leben widerspricht teilweise unserer Natur und ist auf Dauer ungesund», sagt Miriam Hess. Die Artgerecht-Bewegung setzt sich deshalb für mehr Gemächlichkeit ein. Elternsein braucht Zeit. Kinder brauchen Zeit. «Ich habe gemerkt, wie gut es mir tut, mich auf das Tempo meiner Kinder einzulassen», erzählt Miriam Hess, die zwei Söhne im Alter von 1,5 und 4 Jahren hat.
Also zurück in die Höhle? Nein. Der Ansatz von Artgerecht-Gründerin Nicola Schmidt ist ein anderer. Es geht ihr nicht darum, die Zeit zurückzudrehen, sondern die Bedürfnisse von Kindern zu verstehen, als Familie entspannt zu leben und gesunde wie glückliche Kinder aufzuziehen. Und das geht auch mitten in einer Stadt des 21. Jahrhunderts.
Kleine Schritte sind wichtig
Natürlich wäre es artgerecht, jeden Tag mit den Kindern in den Wald zu gehen. Aber wer schafft das im Alltag? Auch das ständige Streben nach einem naturnahen Leben kann stressig sein. Deshalb geben Nicola Schmid und ihre Freundin Julia Dibbern im Buch «slow family» Entwarnung: Die kleinen Schritte sind wichtig. Jeden Tag zehn Minuten eine Schnecke oder einen Käfer beobachten ist schon mal gut. Perfektionismus ist sowieso nicht das Ding der Artgerecht-Pionierinnen. «Slow family ist ein Prozess», schreiben sie. «Es klappt mal besser und mal schlechter. Aber das macht nichts.»
Auch Miriam Hess lebt nicht in unberührter Natur, sondern in der neuen, stark verdichteten Siedlung Freilager in Zürich-Albisrieden. Sie zog bewusst mit ihrer Familie in diese Siedlung mit regem Quartierleben. Denn ein wichtiger Aspekt des Artgerecht-Projektes ist der sogenannte Clan: Statt alleine vor sich hinzuwerkeln, sollen sich Familien mit anderen Menschen zusammentun, um ihre Kinder aufzuziehen.
Auch hier wird als Erklärung die Steinzeit bemüht: «Wir sind eine kooperativ aufziehende Art», zitiert Miriam Hess eine amerikanische Anthropologin. «Wir sind nicht fürs Einzelgängertum gemacht.» In der früheren Stadtwohnung habe sie sich oft isoliert gefühlt mit ihren zwei kleinen Kindern. Vom Leben in einer Siedlung mit 800 Wohnungen erhofft sie sich nun mehr Gemeinschaft.
Gute Krippen sind artgerecht
Eigentlich wollte Miriam Hess ihr erstes Kind nach sechs Monaten abstillen, das Baby in eine Krippe geben und mit einem 60-Prozent-Pensum in ihren Beruf als Sozialarbeiterin zurückkehren. Doch es kam anders. «Das Stillen fühlte sich sehr natürlich an und tat mir und meinem Kind gut. Das Abgeben des Kindes in der Krippe machte mir Mühe und fühlte sich zu diesem Zeitpunkt einfach nicht richtig an.» Weil sie auf ihre Mutterinstinkte hören wollte, hängte die Zürcherin ihren Job vorerst an den Nagel, nahm das Kind aus der Kita – und genoss die Zeit mit ihrem Baby.
«Das ist aber unser Modell», betont Miriam Hess. Im Artgerecht-Projekt gehe es nicht darum, die Frauen wieder an den Herd zu holen. Viele Mütter, die nach dem Artgerecht-Ansatz leben, gingen einer Erwerbsarbeit nach. «Sie suchen eine gute Krippe aus oder organisieren sich mit Verwandten oder anderen Familien.» Die Betreuung des Kindes in einer Krippe könne artgerecht sein, sagt Hess. Vorausgesetzt, die Betreuerinnen nehmen die Bedürfnisse der Kinder ernst und lassen eine lange Eingewöhnungszeit zu. Miriam Hess selbst möchte während der Stillzeit für ihre Kinder da sein und geht deshalb einer selbständigen Erwerbsarbeit nach. Den grossen Sohn hat sie gestillt, bis er 3,5 Jahre alt war.
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