Die unglaubliche Geschichte von JodsalzWie drei heldenhafte Ärzte die Schweiz vom Kropf erlösten
Es ist das Jod! Vor hundert Jahren beendeten drei Ärzte aus Herisau, Adliswil und dem Mattertal eine der verheerendsten Gesundheitskrisen in der Geschichte unseres Landes.

Dieser Artikel erschien erstmals am 16. September 2022. Für die Feiertage ergänzen wir unser Angebot für Sie und wünschen Ihnen eine gute Lektüre.
Dieser Artikel greift auf zahlreiche Quellen zurück – medizinische Periodika und Studien, Statistiken und Fachbücher, handschriftliche Korrespondenz, historische Fotografien, Gesprächsnotizen, zudem auf Hunderte vergilbte Zeitungsartikel, die in Kisten auf dem Dachboden des Instituts für Medizingeschichte der Universität Bern lagern. Dr. Maria Andersson, Ernährungswissenschaftlerin am Universitäts-Kinderspital Zürich und Präsidentin der Fluor- und Jodkommission der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften, hat den Artikel gegengelesen und auf seine medizinische Richtigkeit hin überprüft.
Der Fluch
Noch im Jahr 1922 war die Schweiz ein echter Sonderfall. In keinem anderen der Fachwelt bekannten Land war eine bestimmte Art von rätselhaften Erkrankungen verbreiteter als hier. Die Krankheiten mit all ihren fürchterlichen Begleiterscheinungen trafen alle Schichten, Städterinnen und Städter ebenso wie Bauernfamilien auf den entlegensten Höfen. Zwar kannte man die Krankheitssymptome auch anderswo auf der Welt, jedoch in keinster Weise in diesem Umfang, mit solchen Verläufen und so gravierenden Folgen für ein ganzes Land.
1921 litten 30 Prozent der 19-jährigen Wehrpflichtigen an einem Kropf. In Luzern und Obwalden wurde jeder vierte wegen akuter Luftnot ausgemustert.
Äusserlich zeigte sich der Fluch an einer Schwellung im Halsbereich, die so gross werden konnte, dass sie auf die Luftröhre drückte und bei den Erkrankten zu den typischen rasselnden Atemgeräuschen führte. Die Rede ist vom Kropf, medizinisch Struma genannt. Wurde er auch oft versteckt unter Kragen und hochgeschlossenen Kleidern, so lässt die Statistik dennoch keinen Zweifel an der Dimension des Problems.
1921 litten 30 Prozent der neunzehnjährigen Wehrpflichtigen an einem Kropf. In Luzern und Obwalden wurde sogar jeder vierte wegen akuter Luftnot ausgemustert. Auf jeden erkrankten Mann kamen drei Frauen mit Kropf, und als besonders anfällig erwiesen sich Kinder. Im selben Jahr registrierte das Schulamt der Stadt Bern bei 94 Prozent der Schülerinnen und Schüler eine abnormale Schwellung des Halses, 70 Prozent hatten bereits einen ausgeprägten Kropf.
In besonders betroffenen Gegenden kam eines von zehn Kindern als sogenannter Kretin zur Welt. Das Wort hat heute einen herabsetzenden Beiklang, doch es verweist in erster Linie auf eine reale Erkrankung von unfassbarer Grausamkeit. Die Kinder wachsen oft zu kleinwüchsigen Menschen mit aufgeschwemmten Gesichtern heran. Sie haben dicke Haut, schütteres Haar, einen übergrossen Bauch, und sie sind taubstumm. Durch einen schweren Hirnschaden verharren sie in ihrer geistigen Entwicklung auf dem Stand eines Kleinkinds.

Vor einhundert Jahren waren 5000 dieser Kretins in Pflegeheimen untergebracht, die Mehrheit allerdings lebte daheim bei der Familie und gehörte somit zum Strassenbild. Wie stumme Aliens standen sie leicht abseits und verfolgten lächelnd einen Alltag, der ihnen fremd bleiben musste.
In der Schweiz wurde einer von 600 Menschen taub geboren – fünfmal mehr als weltweit üblich. In den am schwersten heimgesuchten Kantonen Zürich und Bern war es sogar einer von 200. Von den Alpen bis ins Mittelland hing dieses Problem wie ein zäher Nebel über dem Land. Die Mischung aus Bewusstseinstrübung und chronischer Erschöpfung schuf eine Atmosphäre tiefer Hoffnungslosigkeit, und den Betroffenen war stets kalt. Wo der Fluch hingelangte, war es still in den Dörfern – kein fröhliches Kindergeschrei, keine Betriebsamkeit.
Während eines Schweizbesuchs 1839 spottete der französische Schriftsteller Victor Hugo: «Les Alpes font beaucoup d’idiots.»
Das Übel war jedoch keineswegs eine neuzeitliche Erscheinung. Schon Vitruv und Plinius der Ältere befassten sich mit dem unheimlichen Phänomen, und für Touristen des 19. Jahrhunderts gehörte es quasi zum Besichtigungsprogramm. In der Schweiz «wimmle» es von Kretins, schrieb Victor Hugo 1839 aus Bern. «Les Alpes font beaucoup d’idiots.» Nicht viel sensibler notiert Mark Twain in einem Reisebericht von 1880: «Ich habe die Hauptmerkmale der schweizerischen Landschaft gesehen – den Montblanc und den Kropf – auf, nach Hause.»
Alle diejenigen, die im Schatten der Krankheit ihr Auskommen finden mussten, spürten die Belastungen ein Leben lang. Kretins hatten eine normale Lebenserwartung, ihre Versorgung und Pflege fiel also Dorfgemeinschaften zu, die schon durch Kropf, Bewusstseinsstörungen und Müdigkeit beeinträchtigt waren.
Die Schwerstkranken zu ernähren, zu kleiden und zu waschen war üblicherweise Sache der Frauen. Frauen, die bereits viele Kinder hatten, aber Warmwasser nur auf dem Küchenherd bereiten konnten und die gesamte Wäsche im Waschhaus erledigten. Für Familien, in denen selbst die Kleinen mit anpacken mussten, war die Geburt eines Kindes mit Kretinismus ein Verhängnis, bedeutete sie doch eine zu ernährende Person mehr bei einer Arbeitskraft weniger.
Fast noch schwerer wog die Furcht, ein Kind in die Welt zu setzen, das kein Segen für die Familie war, sondern eine Last. Dazu der schwer abweisbare Verdacht, dass auf dieser Familie eben kein Segen lag, was nur selbst verschuldet sein konnte.
«Kein Alpenbewohner», schrieb der römische Satiriker Juvenal im Jahr 130 v. Chr., «ist ernsthaft überrascht vom Kropf.» Und daran hatte sich auch 1922, siebzig Generationen später, nichts geändert. Der Kropf und all die anderen auf schwerem Jodmangel basierenden Krankheiten und Beschwerden waren unausweichlicher Bestandteil des normalen Lebens. Kaum jemand konnte sich vorstellen, dass der Fluch in weniger als einer Dekade der Vergangenheit angehören würde.
Das Mysterium
Im 19. Jahrhundert zählten Kropf und Kretinismus zu den grossen unbeantworteten Fragen der Medizin. Man wusste wenig über die Krankheit selbst, umso beeindruckender war die Symptomatik. Kretins waren befremdliche Wesen, die es nur in bestimmten Gebieten gab.
Und noch etwas wusste man: Es gab sie nur dort, wo auch der Kropf vorkam. Die geographische Konzentration war verstörend – und führte zu der entscheidenden Frage: Was war so anders an dieser Region, dass sie diesen Menschenschlag hervorbrachte? Die Antwort konnte nur in den Alpen liegen.
Wissenschaftler, Medizinerinnen und Hobbyexperten aus ganz Europa strömten, mit freundlicher Unterstützung der aufstrebenden Tourismusindustrie, an den Ort des Mysteriums und spekulierten drauflos. Mal sollte es an der Landschaft liegen, mal an der Höhe, mal am Luftdruck, der Schneeschmelze, dem Sonnenlicht (zu intensiv, zu schwach). Miasmen, also angeblich krankmachende Dämpfe, wurden ebenso wenig ausgeschlossen wie die Bierqualität, schlecht belüftete Behausungen, Inzest oder moralische Verfehlungen.
Der Aktivismus der neugierigen Forscher, die Hälse vermessen und Speisepläne protokollieren wollten, stiess bei den Dorfbewohnern auf wenig Verständnis.
Man sammelte massenweise Daten über die Lebensbedingungen in den betroffenen Landstrichen und brachte alles mit allem in Verbindung, getreu der damaligen Lehrmeinung, dass Krankheiten grundsätzlich multifaktoriell seien. Und konnte es nicht sein, dass das Grundwasser in Verbindung mit Sonnenlicht auch den Kropf wachsen liess? Oder dass ein Zusammenwirken von Luftdruck und Geologie Kretins formte? Eine im Jahr 1876 erstellte Liste der plausibelsten Erklärungen kam auf vierzig Einträge. Vierzig unterschiedliche Theorien über die Genese der mysteriösen Erkrankung.
In den allermeisten Fällen vergebliche Mühe, denn die enthusiasmierten Forscherinnen und Forscher errichteten als Erstes ihre privaten Klassifizierungssysteme, um die Schwere einer geistigen Beeinträchtigung oder die Grösse der Struma zu beschreiben.
Doch ohne einheitliche Messstandards liess sich das gesammelte Material nicht zusammenführen und war daher nahezu unbrauchbar. Der Aktivismus dieser neugierigen Fremden, die ihre Hälse vermessen, ihren Speiseplan protokollieren oder gar schwerbehinderte Angehörige zur weiteren medizinischen Untersuchung mitnehmen wollten, stiess jedoch bei den Dorfbewohnern bisweilen auf wenig Verständnis.

1883 endlich der erste Durchbruch: Dr. Heinrich Bircher, Dozent für Chirurgie an der Universität Bern, veröffentlichte eine Untersuchung zum «endemischen Kropf», mit detailliertem Zahlenmaterial aus sämtlichen Gemeinden der Schweiz. Zum ersten Mal wurde das Ausmass des Problems sichtbar. Das Ergebnis: Der Kropf war überall, auch wenn die Prävalenz variierte.
Hielten sich die Fallzahlen im Tessin, im Jura und in den Kantonen Waadt, Neuchâtel und Genf noch im Rahmen, waren sie überall sonst geradezu spektakulär hoch. In der Gemeinde Jegenstorf nördlich von Bern litten 94 Prozent der jungen Männer an einem ausgeprägten Kropf. In anderen Ortschaften, etwa Rheinau ZH, Rumendingen BE oder Chésalles FR, war jede dritte Einwohnerin und jeder dritte Einwohner taub, in Kaiseraugst AG waren ebenso viele geistig schwerbehindert.
Auffällig waren zudem die scharfen Grenzen in der Verteilung der Fälle. Während ein Dorf wie Kaisten AG vom Kretinismus geradezu heimgesucht wurde, blieb das nur sechs Kilometer entfernte Effingen davon verschont.
Der dichtende Allgemeinarzt
Zur gleichen Zeit bewegte sich die Ursachenforschung vom Makro hin zum Mikro. «Es war die Hochzeit der Bakteriologie», sagt Dr. Pascal Germann vom Institut für Medizingeschichte der Universität Bern, der zum Thema geforscht und publiziert hat. «Zwischen 1880 und 1920 galt praktisch alles als Infektionskrankheit. Diese Sichtweise lieferte die Basis dafür, wie eine Krankheit zu konzeptualisieren, zu erforschen und zu bekämpfen war.»
Bezogen auf den Kropf, dominierten allerdings zwei Hauptrichtungen die Forschung. Die eine vermutete pathogene Keime im Wasser als Ursache, die andere ging von einem ansteckenden Erreger im Kropfgewebe selber aus. Also wurden Proben genommen und Kulturen angezüchtet.
Im ganzen Land analysierte man Brunnen- und Flusswasser auf alles Mögliche hin – ohne Erfolg. Doch davon liessen sich die Forschenden nicht beirren. Früher oder später, so die allgemeine Überzeugung, würden sie den Feind identifizieren. «Weil die meisten Krankheiten als Infektionskrankheiten galten», sagt Germann, «bedeutete die Tatsache, dass man noch keinen Befund hatte: Man musste eben weitersuchen.»
Was war das für eine Seuche, die in den Alpen grassierte? Einhundert Jahre lang hatten die besten Köpfe der Medizin über die Frage gerätselt. Dann kam ein junger Mann namens Hunziker…
Eine weitere Hypothese fand Verbreitung, lieferte der Kretinismus doch scheinbar schlüssige Belege für die gängigen Theorien der Zeit zu Vererbung und «Rassenhygiene». In seinem Buch «Die Kretinische Entartung» postuliert der Schweizer Arzt Ernst Finkbeiner eine genetische Ursache des Problems, unterfüttert das Ganze mit allerlei Schädelmessungen und präsentiert eine Lösung: Massensterilisationen, um «alle von der Endemie auch nur gestreiften Individuen von der Fortpflanzung auszuschliessen.»
Hätte man das umgesetzt, so Germann, wären fünf Prozent der Schweizer Bevölkerung zwangssterilisiert worden. Dabei waren die Ansichten des praktischen Arztes Finkbeiner durchaus gesellschaftsfähig. Selbst der Direktor des pathologischen Instituts der Universität Bern, Professor Dr. Carl Wegelin, fand sie immerhin so interessant, dass er das Geleitwort zu dem Buch schrieb.
Was war das für eine Seuche, die in den Alpen grassierte? Einhundert Jahre lang hatten die fähigsten Köpfe der abendländischen Medizin, zum Beispiel Alexander von Humboldt, über die Frage gerätselt. Doch die Antwort kam weder von einer Universität noch von einem angesehen Forschungsinstitut, sondern von einem jungen Allgemeinarzt aus Adliswil ZH namens Heinrich Hunziker, der in seiner Freizeit formvollendete Idyllen und Sinngedichte verfasste und in schmalen Bändchen publizierte.

Im Mai 1914 – Hunziker war vierunddreissig Jahre alt – hielt er vor seiner ärztlichen Fachgesellschaft einen Vortrag, der alle bisherigen Annahmen über die Struma mit wohlbemessenen Sätzen verwarf. Die gesamte Forschung, so Hunziker vor seinen Kollegen, habe sich nämlich über den Krankheitsmechanismus getäuscht. Kein Erreger oder Gendefekt war die Ursache, sondern im Gegenteil: das Fehlen von etwas.
Jod
Wenn Sie wissen wollen, wo sich Ihre Schilddrüse befindet: Fassen Sie sich einmal an den Hals. Dort, knapp unterhalb und beiderseits des Adamsapfels, dicht unter der Haut, liegt sie.
Sie ist etwa fünf Zentimeter breit, hat die Form eines Schmetterlings und ist im gesunden Zustand auch ähnlich dünn. Das heisst, wenn alles in Ordnung ist, lässt sie sich praktisch nicht ertasten. Gleichwohl ist sie ein lebenswichtiges Organ, zuständig für die Bildung von zwei Hormonen, die sich auf die meisten Körperzellen auswirken und nahezu alle physiologischen Prozesse beeinflussen, von Stoffwechsel über Puls bis hin zu Hirnfunktion, Körpertemperatur und Wachstum.
Beide Schilddrüsenhormone enthalten das Element Jod. Als Feststoff ist Jod ein schwarzglänzender Kristall, gasförmig ändert es seine Farbe zu Violett. Der Körper kann Jod nicht selber bilden, also muss es irgendwie aufgenommen werden, hauptsächlich über die Nahrung, aber auch über das, was wir trinken, und sogar über die Luft, die wir einatmen. Der Tagesbedarf ist extrem gering: Ein erwachsener Mensch benötigt nur etwa 150 Mikrogramm Jod täglich. Fehlen diese, hat das verheerende Folgen.
Kinder mit Jodmangel wachsen nicht mehr richtig, und ihr Gehirn nimmt Schaden. Geradezu katastrophal sind die Folgen für einen Fötus im Mutterleib.
Die unterversorgte Schilddrüse beginnt in diesem Fall zu wachsen, um auch noch das letzte Quäntchen Jod aus dem Blut zu fischen. Aus der anfangs leichten Schwellung wird so mit der Zeit ein Kropf. Doch selbst diese Anpassung reicht manchmal nicht aus.
Ohne genügend Schilddrüsenhormone sinkt die Herzfrequenz, man fühlt sich abgeschlagen und verfroren, es kommt zu Muskelschmerzen und einem allgemeinen Schwächegefühl. Bald schwellen auch die Gelenke an, die Haut trocknet aus, die Haare werden dünner, die Stimme heiser. Man legt an Gewicht zu, doch die geistige Präsenz nimmt ab. Man wird vergesslich und teilnahmslos, jede Lebensfreude erlischt.
Kinder mit Jodmangel wachsen nicht mehr richtig, und ihr Gehirn nimmt Schaden. Geradezu katastrophal sind die Folgen für einen Fötus im Mutterleib. Das ungeborene Kind ist nämlich auf die Schilddrüsenhormone der Mutter angewiesen, ohne diese ist die gesamte Entwicklung gestört, was zu Fehlgeburten und schweren Geburtsgebrechen wie Taubheit führen kann.
Gravierender Jodmangel in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen behindert die Entwicklung des Embryos in einem Mass, dass es zu einem Kretin werden kann.
1965 wies ein Basler Chirurg nach, dass die Ausdehnung des alpinen Eisschildes mit dem Verbreitungsgebiet des Kropfes übereinstimmte – die Schweiz hat durch Tauprozesse und Erosion ihr gesamtes Jod verloren.
Jod kommt in unterschiedlicher Konzentration überall auf der Welt vor. Besonders viel Jod enthalten die Ozeane. Als sich die Urmeere allmählichen von der späteren Landmasse zurückzogen, lagerte es sich ab, wo es von Pflanzen und Tieren aufgenommen wurde, die es später der Erde wieder zuführten, durch Ausscheidungen oder ihren Untergang. Über diesen Jodkreislauf blieb das elementare urzeitliche Erbe weitgehend erhalten. Und was durch Erosion ins Meer geschwemmt wurde, kehrte in Form von Joddampf alsbald an Land zurück.
Nicht so in der Schweiz. In der letzten Eiszeit versanken die Alpen unter einem kilometerhohen Eisschild, der mit seiner enormen Masse den Untergrund zermalmte: Land, das in Etappen auftaute und wieder gefror und durch Schmelzwasser nach und nach ausgewaschen wurde. Im Lauf von einer Million Jahren verlor das Schweizer Mittelland auf diese Weise eine Oberflächenschicht von 250 Metern Dicke.
Vor 24’000 Jahren erstreckte sich das Eis über sämtliche Kantone der Nordschweiz, nicht aber über das Tessin und den Jura. 1965 wies der Basler Chirurg Prof. Franz Merke nach, dass die Ausdehnung dieses Eisschildes exakt mit dem Verbreitungsgebiet des Kropfes übereinstimmte. Chemische Bodenanalysen bestätigen seither immer wieder: Die Schweiz hat durch Tauprozesse und Erosion ihr gesamtes Jod verloren.
Die Jodmangel-Theorie wurde erst 1954 bewiesen, im selben Jahre wie die Gletschertheorie erstmals vorgebracht wurde. Vier Jahrzehnte vorher, 1914, war die Existenz von Hormonen für die Wissenschaft vollkommen neu, ebenso Ernährung als wissenschaftliches Feld, und über die chemische Zusammensetzung der Schweiz wusste man so gut wie gar nichts.
Abgesehen von seinem überragenden Verstand konnte Heinrich Hunziker nur auf seine Bücher und seine Erfahrung als praktischer Arzt zurückgreifen. Trotzdem haben sich fast alle seine Hypothesen inzwischen bewahrheitet.
Der Durchbruch
Das Element Jod wurde 1811 entdeckt. Zu der Zeit, als Hunziker vor der Gesellschaft der Ärzte am Zürichsee seinen bahnbrechenden Vortrag hielt, fand es in einer verwirrenden Vielzahl von Medikamenten Verwendung, darunter Hustensaft, Hautcremes und sogar Potenzmittel. Doch waren die Nebenwirkungen gefürchtet, insbesondere Jod-Basedow, zu dessen Symptomen hervortretende Augen, Herzrasen, Muskelzittern und Erregungszustände gehören und das bisweilen tödlich endet.
Jod war als Arzneistoff bekannt und als Gift gefürchtet. Und jetzt behauptete ein Schweizer Landarzt, es sei in erster Linie ein essenzieller Nahrungsbestandteil, nicht anders als Eiweiss, Kohlenhydrate oder Wasser? Es war ein Paradigmenwechsel, ebenso wie die Grössenordnung in der Dosierung.
Es war die eigentliche Enthüllung an diesem Abend: Mit Jodgaben in korrekter Dosierung nahm der Kropf ab – und kehrte zurück, sobald man die Behandlung unterbrach.
Wenn Schweizer Apotheken Jod-Therapien anboten, dann häufig mit Tagesdosen von einem Gramm. Viel zu hoch, fand Hunziker, ein Zehntausendstel dieser Menge reiche vollkommen aus. Auch das furchteinflössende Jod-Basedow sei die Folge einer massiven Überdosierung, das hätten eigene jahrelange Tests zur Genüge ergeben, behauptete er. Es war die eigentliche Enthüllung an diesem Abend: Mit Jodgaben in der korrekten Dosierung nahm der Kropf ab – und kehrte zurück, sobald man die Behandlung unterbrach.
Hunziker hatte ein komplexes medizinisches Problem auf eine einzige Ursache zurückgeführt. Der Kropf war weder eine Infektion noch eine auf äusseren Ursachen beruhende Missbildung, sondern eine kompensatorische Vergrösserung des Schilddrüsengewebes in seinem Hunger nach Jod.
In Hunzikers eiserner Logik war auch die Ursache für Kretinismus alles andere als rätselhaft, das zeigten die Fälle von Neugeborenen, die ohne Schilddrüse zur Welt kämen. Doch diese Babys, so Hunziker, litten ausschliesslich unter nachgeburtlichen Defekten, was nur bedeuten konnte, dass sie vor der Geburt ausreichend mit den Hormonen der Mutter versorgt gewesen waren. Folglich sei ein Jodmangel bei der Mutter in der Frühphase der Schwangerschaft auch schuld an kropfbedingten Geburtsfehlern wie Kretinismus. Hunziker sollte recht behalten.
Als Hunzikers Vortrag 1915 veröffentlicht wurde, passte seine gesamte Theorie in ein Büchlein von vierundzwanzig Seiten. Das war nicht umfangreicher als die Gedichtbändchen, die er hatte drucken lassen. Bald konnte niemand mehr seine Botschaft ignorieren. Hunziker präsentierte nicht bloss die Lösung für einen Teilaspekt der Krankheiten. Vielmehr legte er eine umfassende Erklärung vor für die Ursachen von Kropf, Kretinismus und damit zusammenhängender Probleme – und er sagte, was sich dagegen tun liess.
Hunzikers Lösung gegen diesen Ur-Fluch – Kropf, Kretinismus, die lähmenden Einschränkungen, die Apathie, die Angst – bestand aus nichts weiter, als allen Schweizerinnen und Schweizern eine winzige tägliche Dosis Jod zu verabreichen, die ihrerseits einem Erzeugnis des täglichen Gebrauchs beizumischen war: Salz.
International verbreitete sich Hunzikers Ansatz als die «Schweizer Theorie». Doch im Land selbst tobte ein erbitterter Streit um die Salzjodierung.
Kochsalz, chemisch Natriumchlorid, ist der perfekte Transporteur für Jod. Auch davon brauchen wir nur wenig. Aber das Wenige ist unabdingbar, um normal zu funktionieren, denn der Körper kann es nicht selber produzieren. Dazu kommt, dass der Mensch – anders als bei Jod – ein natürliches Verlangen nach Salz hat.
Die regelmässige Einnahme von Medikamenten mag nicht jedem gelingen, aber der tägliche Salzkonsum ist mehr oder weniger konstant. Wir stehen auf Salziges, aber wenn wir genug haben, haben wir genug. Die Anreicherung von Kochsalz mit Jod ist auch deshalb die beste aller Darreichungsformen, weil man die Substanz in diesen minimalen Dosen weder sehen noch schmecken kann, die Jodaufnahme erfolgt praktisch unbemerkt nebenher.
International verbreitete sich Hunzikers Ansatz als die «Schweizer Theorie», doch im Land selbst tobte ein erbitterter Streit um die Salzjodierung. Gegner behaupteten, sie käme einer Massenvergiftung gleich. Dr. Adolf Oswald, eine Kapazität der Inneren Medizin an der Universität Zürich, warnte sehr eindringlich vor den «Gefahren der Jodbehandlung» und rief zum Widerstand. Hunzikers Ideen gewannen dennoch an Boden. So plädierte 1917 selbst Theodor Kocher, nobelpreisdekorierter Titan der Schweizer Medizin, kurz vor seinem Tod für geringe Jodmengen zur Kropfprophylaxe.
Der Wissenschaftler und das «Nationalübel»
Auf der anderen Seite des Landes verfolgte Otto Bayard das Geschehen, ein Landarzt im Walliser Mattertal und zwei Jahre jünger als Hunziker. Bayard war ein weitgereister Mann, hatte in Dublin studiert, war als Schiffsarzt bis nach China und Indonesien gekommen und gerade von einer Rotkreuzmission auf dem Balkan zurückgekehrt.
Jetzt, 1918, sass er wieder im heimatlichen Wallis, genauer im kriegsbedingt touristenleeren Zermatt, Endstation für die täglich zwei Dampfzüge, und auch die verkehrten nur im Sommer. In der kalten Jahreszeit war der Ort von der Welt abgeschnitten. Wer hier einen Patienten aufsuchen wollte, war leicht zwanzig Stunden auf dem Maultier unterwegs, zudem in einer Gegend, wo einem das «Nationalübel», wie die Presse das Problem in den Zwanzigern nennen sollte, in jedem Dorf ins Auge sprang.

Bayard hatte die Geschichte der Kropfbehandlung intensiv studiert und wusste um die Risiken. Ein französischer Versuch zur Jodierung von Salz in den 1870er-Jahren endete tatsächlich in einer Massenvergiftung. Er war überzeugt, dass sich dieser Worst Case mit einer minimalen Dosierung vermeiden liess, und entwickelte ein neuartiges Experiment zur Bestimmung der Wirkschwelle: den Dosis-Wirkung-Versuch. In einem endemischen Kropfgebiet wollte er fünf Familien über fünf Monate hinweg unterschiedlich stark jodiertes Speisesalz geben.
Bayard war ein Einzelkämpfer. Er hatte keinerlei Mandat für diese Art Forschung, die er aus eigener Tasche finanzierte. Mit einer Schneeschaufel mischte er Salz und Jod, bis eine Überdosierung ausgeschlossen war. Bei fünf Familien kam eine gehörige Menge zusammen, denn Bayard bezog sich auf die damals gültige internationale Verzehrempfehlung von 15 Gramm Salz täglich – dreimal so hoch wie der heutige Wert. 15 Gramm täglich, das entspricht fünfeinhalb Kilo Salz pro Person und Jahr. Als alles fertig war, lud Bayard die sorgsam beschrifteten Salzsäcke auf sein Maultier und machte sich auf nach Grächen.
Selbst nach Walliser Massstäben lag das Dorf weitab vom Schuss. Ein vergessener Fleck auf einer Hangterrasse, mit dem Esel anderthalb Stunden vom Tal entfernt, ohne Strasse, ohne Eisenbahnanbindung und fest in der Hand der Struma.
Am erstaunlichsten war das Ergebnis bei der Familie von Theophil Brigger. Trotz niedrigster Dosis waren seine sieben Kinder bald wie verwandelt.
75 Prozent der Schulkinder wiesen vergrösserte Schilddrüsen auf, notierte Bayard. Er vermass Halsumfänge, machte Fotoaufnahmen mit seiner Kamera und verteilte das jodierte Salz an die Familien, ausserdem eine Extraration für die Kühe, um so die Substanz in die Milch zu schleusen. Aus dem gleichen Grund erhielt auch der Dorfbäcker einen Sack. Bayard bezog sogar das Brot in seinen Versuch ein.
Das Experiment lief einen ganzen Winter lang, die Jahreshälfte, in der die Kinder zur Schule gingen und nicht bei der Arbeit waren. Als Bayard im Frühjahr auf seinem Maultier zurückkehrte und erneut Mass nahm, stellte er fest, dass bei sämtlichen Familien eine Besserung eingetreten war. Nicht nur dass sie keine Anzeichen einer Jodvergiftung aufwiesen, ihre Hälse waren auch deutlich dünner als zu Beginn des Versuchs.
Am erstaunlichsten aber war das Ergebnis bei der Familie von Theophil Brigger. Brigger hatte sieben Kinder im Alter von sechs bis fünfzehn Jahren. Sie hatten die niedrigste Dosis erhalten, lediglich 4 Milligramm Kaliumjodid pro Kilogramm Salz, und waren gleichwohl wie verwandelt – und ihre vergrösserten Schilddrüsen beinahe nicht mehr zu sehen.
Bayard veröffentlichte die Ergebnisse seines in Eigenregie durchgeführten Feldexperiments und machte sofort weiter. Er musste beweisen, dass die Salzstrategie auch im grossen Stil funktionierte, also nicht nur bei fünf ausgewählten Familien, sondern bei zwei ganzen Dörfern und über alle Altersgruppen hinweg.
In penibler Kleinarbeit, Kilo für Kilo, rührten die Männer aus Grächen im örtlichen Salzdepot das Konzentrat unter das Salz, das sie hatten.
Abermals wählte er Grächen und daneben das etwa gleich grosse Törbel auf der anderen Talseite. Mit Geldern des Eidgenössischen Gesundheitsamts ging er daran, ein Salz-Jod-Konzentrat herzustellen, welches sodann an Gewährspersonen aus den Gemeinden verteilt wurde, zusammen mit zuverlässigen Federwaagen und genauen Mischanweisungen.
In penibler Kleinarbeit, Kilo für Kilo, rührten diese Männer im örtlichen Salzdepot das Konzentrat unter das Salz, das sie hatten. Eine herkulische Arbeit, doch am Ende konnte man drei Tonnen standardisiertes Jodsalz unter die Leute bringen. Es war Bayards zweites grosses Winterprojekt, und wieder begann es mit der Inaugenscheinnahme der Hälse, nur dass es jetzt deren 1100 waren. Ansonsten dasselbe Bild wie im ersten Jahr: Nach sechs Monaten waren die Kröpfe dahingeschmolzen wie der Schnee.
Bayard setzte sein Experiment in Grächen für ein weiteres Jahr fort, indem er den Jodid-Anteil pro Kilo schrittweise auf 20 Milligramm erhöhte. Ende 1921, drei Jahre nach Beginn seiner Mission, ging das Leiden sichtlich zurück und das ganz ohne Jodvergiftungen. Jetzt regte sich auch die Schweizerische Kropfkommission und lud ihn ein, seine Ergebnisse zu präsentieren. Bayard packte seine Unterlagen zusammen und reiste nach Bern.
Als Teil eines sechzehnköpfigen Gremiums, in dem die Topleute der akademischen Forschung, des Gesundheitsamts und der Armee versammelt waren, trat Bayard am 21. Januar 1922 in Bern auf. Obwohl er und Hunziker als einfache Landärzte (zwei von über dreitausend) gewissermassen nur zum Fussvolk zählten, standen ihre Erkenntnisse ganz oben auf der Tagesordnung.
Mehr noch, die Sitzung war überhaupt nur angesetzt worden, weil sich zum ersten Mal in der Geschichte so etwas wie eine Lösung des Kropfproblems abzeichnete. Natürlich besprach man auch andere Ansätze wie die sogenannte innere Desinfektion als Heilmittel gegen imaginierte Kropfmikroben, aber der Fokus lag eindeutig auf Bayards sensationellen Versuchen.
Heftig wurde um die Frage gestritten, warum das Salz wirkte, aber dass es das tat, war offensichtlich. Ein Umstand, der die Kommission vor ein Dilemma stellte: Sollte sie ohne ein lückenloses Verständnis der Krankheit landesweite Gegenmassnahmen einleiten? Andererseits war die Gelegenheit einfach zu gut, um dem Nationalübel endlich ein Ende zu bereiten.
Aber wie sollte die Salzstrategie umgesetzt werden? Bayard, der Praktiker aus dem Mattertal, war für eine Jodsalzpflicht. Einfachen Leuten, so glaubte er, könne man nicht eine Entscheidung überlassen, die aus einem Ungeborenen möglicherweise einen Kretin macht. Andere widersprachen, das freiheitsliebende Schweizervolk würde das nicht hinnehmen und selber entscheiden wollen. Einige schlugen gar ein geheimes Salzprogramm vor, über das erst aufgeklärt werden sollte, wenn sich die Wirkung zeigte.
Es waren längst nicht die einzigen Komplikationen. Nach einer Tradition, die bis ins Mittelalter zurückreichte, besass nämlich jeder Kanton das Salzregal, sprich das Monopol auf den Salzhandel. Somit lag auch die Entscheidung über eine Salzjodierung bei den Kantonen, und das wiederum machte die Causa zu einer hochpolitischen Angelegenheit. Es half wohl alles nichts, die Schweizerinnen und Schweizer mussten erst, notfalls Kanton für Kanton, von der Unbedenklichkeit des neues Salzes überzeugt werden. Eine «Sisyphusarbeit», wie Bayard später schrieb.
Der Aktivist
Einer aus der gelehrten Runde war überzeugt, dass dies möglich war: Hans Eggenberger, Chefarzt am Bezirksspital Herisau AR. Er hatte seiner Gesundheitsdirektion bereits ein gutes halbes Jahr zuvor angetragen, Jodsalz einzuführen, nur um daraufhin Sätze zu vernehmen wie: «Das Volk lässt sich so etwas nie und nimmer bieten.»
Eggenberger traute dem Volk aber mehr zu. Ein Assistent beschrieb ihn einmal als sonnengebräunten Naturburschen, der in aller Herrgottsfrühe, noch vor seiner Arbeit im OP, mit der Sense aufs Feld zog, um den Knechten zur Hand zu gehen. Eggenberger war der Ansicht, dass es nur Bildung war, die den Chirurgen vom einfachen Bauern trennte.

Diese Überzeugung hatte er wenige Tage vor der historischen Sitzung der Kropfkommission auf den Prüfstand gestellt. Schauplatz war das Kino Säntis in Herisau, wo an einem Abend einmal nicht die übliche seichte Unterhaltung geboten wurde, sondern ein Vortrag über jodiertes Salz. Vielleicht lag es an der Neugier der Leute, an den Farbdias oder am Ruf des charismatischen vierzigjährigen Klinikchefs, jedenfalls war der Saal rappelvoll.
Beim Herisauer Arzt Hans Eggenberger waren Vergleiche stets so lebhaft, dass sie auch die Letzten kapierten.
Eggenberger hatte ein Händchen für Werbung und Kommunikation und schlug auch gern die Propagandatrommel, wo es ihm nötig schien. So verringerte er das Stigma rund um den Kropf anhand von Renaissancegemälden der Jungfrau Maria. Und jodiertes Salz hiess bei ihm nicht einfach «Jodsalz», sondern «Vollsalz», im Anklang an «Vollmilch» und «Vollkornbrot». Das klang natürlicher und nahm den Leuten die Angst.
Ebenso waren bei ihm Vergleiche stets so lebhaft, dass sie auch die Letzten kapierten. Ein einziges Jodpräparat aus der Apotheke, dozierte er, enthielt genau so viel Jod wie eine komplette Vollsalzversorgung über 27 Jahre. Daneben menschelte es viel in seinen Vorträgen. Etwa wenn er von dem fünfzigjährigen Mann mit Kretinismus erzählte, der von den Dorfkindern unablässig nach der Uhrzeit gefragt wurde. Ein herzensguter Mann, der bloss nicht den geringsten Begriff von Zeit hatte und am Ende in ohnmächtigen Zorn ausbrach.
Angespornt durch die Arbeit in der Kropfkommission und beseelt von der Idee, für die Schweiz ein neues Kapitel aufzuschlagen, startete Eggenberger von Herisau aus seine grosse Kampagne. Über die lokale Sektion des Roten Kreuzes verlangte er per Initiativbegehren «die Herstellung eines solchen Vollsalzes an die Hand zu nehmen, finanziell zu unterstützen und an Salzverkaufsstellen dem Publikum zugänglich zu machen». Und mit seinem Kino-Vortrag ging er auf Tour.
Ein übermenschliches Pensum: Alle fünfzehn Gemeinden in gerade einmal drei Wochen – und das nach einem langen Arbeitstag im Spital. Abend für Abend beluden Eggenberger, ein Filmvorführer und eine Krankenschwester den spitaleigenen Ambulanzkraftwagen mit einem Projektor, kistenweise Dias und medizinischem Anschauungsmaterial und fuhren, mit Eggenberger am Volant, durch die Dunkelheit zum nächsten Veranstaltungsort.
«Die Appenzeller Hinterländler haben sich eben in dieser Sache als die fortschrittlichsten bewiesen», bemerkte ein Reporter der Zeitschrift «Am häuslichen Herd».
Ein Reporter der illustrierten Monatsschrift «Am häuslichen Herd», der die Truppe einmal begleitete, schrieb: «Die Fahrt geht auf mondbeschienener Strasse in den tiefen Tobel hinunter, dann bergan und ins Dorf hinein. Vor dem Bären machen wir halt. Der grosse Tanzsaal ist hell erleuchtet. An langen Tischen sitzen die Männer, Frauen und Jungfrauen des Dorfes.»
Mit seiner Diaschau und seinen Demonstrationen von präpariertem Kropfgewebe erreichte Eggenbergers Vortrag die Leute direkt, erinnert sich der Reporter. «In heimeligem Schweizerdeutsch hält er ihn, betrübende Wahrheiten oft in ein heiteres Gewand kleidend, und wird dafür mit verständnisvollem Lachen belohnt. Aber gleich macht die fröhliche Stimmung wieder dem Ernste Platz; denn es handelt sich um eine recht ernste Sache, die man sich wohl überlegen muss.»
Bis zum 12. Februar 1922 hatte die Volksinitiative 3480 Unterschriften beisammen. Der Kanton Appenzell Ausserrhoden war nicht bekannt dafür, Neuerungen gegenüber besonders aufgeschlossen zu sein, wie der Reporter vermerkt, doch «die Appenzeller Hinterländler haben sich eben in dieser Sache als die fortschrittlichsten bewiesen».
Eggenberger legte seine Initiative dem Regierungsrat vor und erhielt schon am 20. Februar die Produktionserlaubnis für das Vollsalz. Er selbst war da längst weiter. Schon seit einer Woche schaufelten seine Helfer am Bahnhof Herisau das Vollsalz zusammen. Zwei Tage später, genau einen Monat nach der Sitzung der Kropfkommission, ging das Salz in den Verkauf. Eggenberger hatte das Unmögliche geschafft, ein ganzer Kanton erhielt von nun an jodiertes Salz – nicht zwangsweise, sondern weil die Bevölkerung es wollte.
Am Ziel
Im Juni desselben Jahres tagte die Kropfkommission erneut. Auf dem Tisch ein Bericht über die gesammelten Erkenntnisse bezüglich Jodprophylaxe in der Kropfbehandlung. Der Bericht stammte von Professor Fritz de Quervain, der Schweizer Kapazität für Schilddrüsenerkrankungen.
De Quervain, damals vierundfünfzig, war der Nachfolger von Theodor Kocher am Berner Inselspital. Eine bullige, respekteinflössende Figur mit Schnauzbart und Kneifer. Und ein Skeptiker: Hunzikers Theorie überzeugte ihn nicht, Eggenbergers Propaganda machte ihn misstrauisch. Dennoch befürwortete er in seinem Fazit die Salzjodierung. Eine wahrlich mutige Entscheidung, bedenkt man, wie gewissenhaft De Quervain war und wie viel Gewicht sein Wort hatte. Er war bereit, einem ganzen Land Jod zu verabreichen, ohne zu verstehen, wie genau die Jodprophylaxe funktionierte.
Am 24. Juni 1922 sprach die Kropfkommission die offizielle Empfehlung für jodiertes Salz aus. Etwas Vergleichbares hatte es noch nirgendwo auf der Welt gegeben.
Die Sitzung verlief alles andere als harmonisch. Vorwürfe der Unwissenschaftlichkeit, ja sogar der Korruption wurden laut. Die Männer wussten, dass sie eine Schicksalsfrage verhandelten. Entweder die Salzjodierung katapultierte das Land in ein neues Zeitalter, oder aber die ganze Aktion endete in einem Riesendesaster – mit einer vergifteten Nation, Todesopfern und zerstörtem Vertrauen in den Ärztestand. So wogte der Streit. Und am Ende wurde abgestimmt.
Am 24. Juni 1922 sprach die Kropfkommission gegenüber den Kantonen die offizielle Empfehlung für jodiertes Salz aus. Etwas Vergleichbares hatte es bisher noch nirgendwo auf der Welt gegeben. Es war die erste systematische Nahrungsmittelanreicherung in der Geschichte der Menschheit, der erste Versuch eines Staates, das Wohlergehen eines ganzen Volkes durch chemische Zugaben in einem Lebensmittel zu verbessern.
Und so wurde das Nationalübel – wie in einem Märchen – aus dem Land vertrieben. Innert acht Jahren sank die Rate der taubstummen Säuglinge um den Faktor 5.
Eggenberger hatte gezeigt, dass die Schweizer sich sehr wohl vernünftig entscheiden konnten, daher gab es das herkömmliche Salz auch weiterhin, neben dem Vollsalz. So viel Freiheit musste sein. Die Vereinigten Schweizerischen Rheinsalinen, die alle Kantone ausser die Waadt belieferten, sprühten nun Jod über ihr Salz, das Verfahren stammte von Eggenberger. Im November 1922 wurden die ersten Chargen ausgeliefert, innerhalb eines Jahres war es in siebzehn Kantonen verfügbar und bis Ende des Jahrzehnts im ganzen Land.
Und so wurde das Nationalübel – wie in einem Märchen – aus dem Land vertrieben. Innerhalb von acht Jahren fiel die Rate der taubstummen Säuglinge um den Faktor 5, von 1:600 auf 1:3000. Mit den taubstummen Kindern verschwanden auch die Schulen für Taubstumme. Seit 1930 ist in der Schweiz kein einziger Kretin mehr geboren worden. Der Alptraum war vorbei.
Nicht alle Schäden eines lebenslangen Jodmangels waren reversibel, besonders bei älteren Leuten, doch zumindest die Erschöpfung und diese tiefe Hoffnungslosigkeit war wie weggeblasen. Und in vordem trostlosen Weilern wuchsen zum ersten Mal Kinder auf, die wieder so etwas wie kindlichen Übermut verströmten. Es gab neues Leben im alten Land.
Gegenangriff der Leugner
«Die Schweiz – kropffrei!», titelten die «Basler Nachrichten» im Februar 1922, nur wenige Tage nach der Sitzung der Kropfkommission. «Wenn nicht alle Zeichen trügen, so steht die Schweiz heute vor den Toren der Kropffreiheit.»
Plötzlich stand das Thema auf der Agenda, andere Zeitungen stiegen in die Story ein, und der Artikel, der Hunziker und Eggenberger als «Wohltäter der Menschheit und Herolde einer neuen Ära der Gesundheitspflege» pries, wurde vielfach nachgedruckt. Landauf, landab feierte man den Zukunftsstoff Jodsalz. Wie konnte eine solche Geschichte in Vergessenheit geraten?
Am 20. Juli 1922, einen knappen Monat nach der Jod-Empfehlung der Kropfkommission, erschien in der «Schweizerischen Medizinischen Wochenschrift» eine Titelgeschichte, die einen für eine Fachzeitschrift ungewöhnlich polemischen Ton anschlug:
«Wenn man heute medizinische Zeitschriften, politische Tagesblätter, Heimblätter, mögliche und unmögliche Annoncenfelder durchstöbert, so könnte der Glauben aufkommen, dass neben Einsteins Relativitätstheorie, die Jodtherapie des Kropfes die bedeutendste Entdeckung der letzten Jahrzehnte gewesen sei und dass die goldene ‹kropflose› Zeit angebrochen sei, und sämtliche Kröpfe der Welt unter dem Siegeszug des Jodes dahinschmelzen wie frische Butter an der Sonne.»
Die Generalabrechnung gegen die Jodprophylaxe kam von Dr. Eugen Bircher – Chefarzt, Antidemokrat, Antisemit.
Es war nichts weniger als eine Generalabrechnung mit der Kropfkommission und umso erstaunlicher, als der Autor, Dr. Eugen Bircher, der hier gegen die «geradezu leichtfertige – um nicht zu sagen verbrecherische – Anpreisung des Jods» wetterte, selbst an der Sitzung teilgenommen hatte.
Er, der sich in der erregten Auseinandersetzung im Juni noch auffällig zurückgehalten hatte, machte nun seiner Empörung über den Beschluss Luft. «Kommende Generationen», schrieb er, «sollen nicht darüber lachen können, dass einfache und festgestellte Erfahrungstatsachen mit Stillschweigen übergangen werden.»
Und weiter über die Verfechter der Jodprophylaxe: «Der Völkerbund kommt einem in seiner Tätigkeit neben dieser kropftotschlagenden Entente als ein naives unberührtes Mädchen vor.» Deren Aktionismus sei nichts weiter als «eine Spekulation auf die Leichtgläubigkeit der Menschheit».
Bircher war nicht irgendwer. Als Chefarzt des Kantonsspitals Aarau war er seinem Vater nachgefolgt, dem Verfasser der berühmten Kropfstudie von 1883, aber inzwischen spielte er auch eine bedeutende Rolle im Schweizer Militär und besass reale politische Macht. Er war Gründer des Schweizerischen Vaterländischen Verbands, einer rechtsextremen Organisation mit Kontakten zur Landesregierung und faschistoiden Organisationen im Ausland. 1924 war er verwickelt in einen nationalen Skandal um die Finanzierung des Münchner Hitlerputsches. Er war ein Antimodernist, Antidemokrat, Antisemit – und jetzt auch noch der lauteste Jodsalz-Gegner.
Seine Argumente wirken dabei einigermassen konfus. Er verweist auf das Risiko von Jod-Basedow, als bestehe kein Unterschied zwischen der unregulierten Jodtherapie früherer Tage und der Mikrodosierung im Tafelsalz, wie sie die Kropfkommission empfahl. Auch Bayards Erfolge diskutiert er mit keinem Wort. Tatsächlich hatte Bircher im Jahr 1918, also zeitgleich mit Bayards selbstfinanzierten Feldexperimenten, ein eigenes, überaus teures Kurzzeittherapeutikum auf Jodbasis mit dem Namen Strumaval auf den Markt gebracht – und in derselben Zeitschrift beworben, in der er nun den Wirkstoff verdammte.
Birchers Attacken verlangten nach einer Reaktion. Die Leser der «Schweizerischen Medizinischen Wochenschrift» waren überwiegend Ärzte, und sollte die Jodprophylaxe ein Erfolg werden, musste man zuallererst sie gewinnen. Deshalb versandte die Kropfkommission an alle 3008 Ärztinnen und Ärzte des Landes Erhebungsbögen, in die jeder Verdachtsfall von Jod-Basedow in den zurückliegenden zwei Jahren einzutragen war. 3506 Fälle wurden gemeldet, von denen aber, teils nach persönlicher Prüfung durch De Quervain, lediglich fünf übrig blieben, in denen Jodsalz eine gewisse Rolle gespielt haben könnte.
Noch 1931, als anderswo der Kropf unter Kindern seltener wurde, litten 95 Prozent der Aargauer Schulkinder an vergrösserten Schilddrüsen.
Öffentliche Anerkennung ist oft politisch, so auch in diesem Fall. Hunziker, Bayard und Eggenberger waren Ärzte an der Patientenfront, ohne Rückendeckung von Universitäten oder bedeutenden Forschungseinrichtungen.
Bircher hingegen machte weiter Karriere. Der Anführer eines rechtsextremen Vereins von Bürgerwehren wurde 1926 Redaktor der «Schweizerischen Medizinischen Wochenschrift», eine Position, die er bis zu seinem Lebensende innehaben sollte, und 1931 Zentralpräsident der Schweizerischen Offiziersgesellschaft und Chefredaktor der «Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitschrift». In den Vierzigerjahren sass er im Verwaltungsrat mehrerer Schweizer Grossunternehmen und als Abgeordneter der BGB, dem Vorläufer der SVP, im Nationalrat. Während der ganzen Zeit gab es keinerlei Würdigung für die Pioniere der Jodprophylaxe.
Bircher blieb bis zu seinem Tod 1956 bei seiner Verweigerungshaltung. Die Folgen hatten die Bürgerinnen und Bürger des Kantons Aargau zu tragen, wo seine Machtbasis und das Zentrum seines Wirkens waren. 1932 alarmierte die Aargauische Naturforschende Gesellschaft die kantonale Sanitätsdirektion: «Viele Ärzte haben sich um die Einführung von Jodsalz nicht bemüht, einzelne haben ihr sogar Widerstände entgegengesetzt.»
Die Lage im Aargau war tatsächlich prekär. Noch 1931, als anderswo der Kropf unter Kindern seltener wurde, litten 95 Prozent der Aargauer Schulkinder an vergrösserten Schilddrüsen. In Orten wie Kaisten, Asp und Schinznach kam jedes zweite Kind mit einem Kropf zur Schule.
Dennoch sollte sich an der Haltung der Aargauer Behörden für weitere zwanzig Jahre nichts ändern. Lag der Absatz von Jodsalz in der gesamten Schweiz mittlerweile bei 83 Prozent, waren es im Aargau weniger als zehn. Selbst zu einer Zeit, in der sich das Jodsalz längst durchgesetzt hatte, wurden die Aargauerinnen und Aargauer weiterhin gezwungen, in der Vergangenheit zu leben – und zahlten auch den alten Preis dafür.
Gedächtnisprobleme
Nach dem Krieg trat die Generation, die den Kropf noch erlebt hatte, allmählich ab und nahm die Erinnerung an diese Geissel der Menschheit mit ins Grab. Eggenberger kam 1946 bei einem Bergunfall ums Leben, Bayard starb 1957 an Krebs. Am Ende war nur noch Hunziker übrig. Er schrieb weiter Gedichte und Sachbücher über alles, was ihn interessierte, von «Die Atmung: Wunder oder Geheimnis?» bis hin zu einem «ABC für Sportfischer». Er überlebte den letzten Kretin der Schweiz und starb 1982 im Alter von 102 Jahren. Erst zu seinem hundertsten Geburtstag verlieh ihm die Universität Bern die Ehrendoktorwürde. Weitere Ehrungen wurden bis heute keinem der drei Männer zuteil.
Jahrzehntelang bewahrte nur ein aufrechtes Fähnlein von Schweizer Medizinern wie etwa der 2017 verstorbene Hans Bürgi die Erinnerung an die Helden der Kropfbekämpfung. 1990 veröffentlichte Bürgi ein auf Englisch verfasstes Paper, das ihre Geschichte erstmals einer grösseren medizinischen Community bekannt machte. Zu diesem Zeitpunkt war Jodsalz weltweit nicht einmal in zwanzig Prozent der Haushalte gebräuchlich, was eine weltweite Kampagne der WHO und von Unicef zu ändern versuchte.
«Das Jodierungsprogramm war zwar extrem erfolgreich, aber damit das so bleibt, darf man nicht nachlassen.»
Heute haben 88 Prozent der Weltbevölkerung Zugang zu Jodsalz, damit sind zwei Milliarden Menschen in jodarmen Gegenden vor vermeidbaren Hirnschäden geschützt. Es war das erste Projekt zur Nahrungsmittelanreicherung und gilt heute unter Experten als eine der einfachsten, kostengünstigsten und erfolgreichsten Gesundheitsmassnahmen aller Zeiten.
Die Schweizer Landschaft indes ist noch dieselbe, und Ernteerträge enthalten nach wie vor kaum Jod. «Das Jodierungsprogramm war zwar extrem erfolgreich, aber damit das so bleibt, darf man nicht nachlassen», sagt Dr. Maria Andersson, Präsidentin der Schweizer Fluor- und Jodkommission und Senior Scientist am Universitäts-Kinderspital Zürich. «Zwar entscheiden sich heute die meisten Leute für jodiertes Salz, aber mehr als 80 Prozent des Salzes in unserer Nahrung stammt aus Erzeugnissen, die anderswo hergestellt wurden – Käse, Salami, Pizza, alles Mögliche. Und viele dieser Hersteller verwenden kein Jodsalz.»
Tatsächlich können unterschiedliche nationale Vorschriften bezüglich der Verwendung von Jodsalz den grossen Nahrungsmittelkonzernen das Leben schwer machen, sagt Andersson, andererseits wüssten sie oft selbst nicht, warum sie kein Jodsalz verwenden.
«Wenn Jodsalz enthalten ist, steht auf der Zutatenliste ‹Jodsalz›, wenn nicht, heisst es nur ‹Speisesalz›. Aber schauen Sie mal in Ihrem Kühlschrank nach. Jedes Salz, das Schweizerinnen und Schweizer zu sich nehmen, sollte jodiertes Salz sein, egal woher das Produkt kommt. Aufgrund unserer jodarmen Böden werden Jodmangelerkrankungen immer eine reale Gefahr sein.»
Heinrich Hunziker, Otto Bayard, Hans Eggenberger: der Visionär, der Wissenschaftler, der Aktivist. Keiner der grossen Drei hätte die Zeitenwende in der Schweiz allein bewerkstelligen können. Hunziker legte die theoretischen Grundlagen, aber seinen eigenen Experimenten fehlte der strategische Weitblick.
Erst Otto Bayard dachte im grossen Massstab und demonstrierte, dass man selbst Städte standardmässig mit jodiertem Salz versorgen konnte. Nur war er eben ein bescheidener Mensch, der am liebsten still für sich arbeitete, kein Politiker. Da brauchte es schon einen Eggenberger, der sich mit allem der guten Sache verschrieb, um den vorsichtigen Schweizerinnen und Schweizern das Vollsalz nahezubringen.
Weder Geld noch Ruhm trieben diese Männer an. Sie waren praktizierende Ärzte, die täglich erlebten, was der Jodmangel anrichtete, und ihren Einsatz als Dienst an den Menschen verstanden. Seinem 1928 erschienen Buch «Kropf und Kretinismus» stellte Eggenberger den Satz voran: «Unserem lieben Vaterland und dem Schweizer Volk gewidmet mit dem innigen Wunsch für eine kretinismusfreie Zukunft.»
Der Wunsch hat sich erfüllt. Das Nationalübel ist so vollständig ausgemerzt, dass nicht einmal die Erinnerung daran überlebt hat.
Aus dem Englischen von Marcus Ingendaay
Jonah Goodman ist freier Journalist und lebt in Paris. Auf die Jodgeschichte ist er per Zufall gestossen, als er nachts während eines Schweizbesuchs keinen Schlaf fand und auf dem Handy herumsurfte.redaktion@dasmagazin.ch
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