Kämpfe um Berg-KarabachWie aus einem eingefrorenen Konflikt ein heisser Krieg wurde
Drei Waffenstillstandsabkommen haben Armenien und Aserbeidschan bereits nach Minuten gebrochen. Nun versucht man in Genf den Krieg zu stoppen, der immer mehr zivile Opfer fordert.
Scharmützel ist man sich gewohnt, auch waren immer wieder Tote zu beklagen – der «eingefrorene» Konflikt um Berg-Karabach wurde seit 1994, als ein Waffenstillstandsabkommen den Krieg beendete, immer wieder aufgetaut. Doch diesmal ist alles anders: Die Konfliktparteien Armenien und Aserbeidschan lassen sich von den internationalen Vermittlern nicht mehr zur Raison bringen und wollen mit militärischer Gewalt eine Lösung erzwingen, die bei den jahrzehntelangen Verhandlungen nicht zustande kam.
Seit Wochen wird gekämpft – mit Panzern, Drohnen und Raketen. Der Krieg sei erst zu Ende, wenn sich Armenien aus Berg-Karabach und den umliegenden Gebieten zurückziehe, verkündet der aserbeidschanische Präsident Ilham Alijew. «Wir kämpfen auf unserem Land, schaffen Märtyrer und stellen unsere territoriale Integrität wieder her.» Der armenische Premierminister Nikol Paschinjan kontert, man werde eine «vernichtende» Gegenoffensive starten: «Wir müssen gewinnen. Wir müssen leben.»
Auch Trumps «Deal» hielt nicht
Derweil steigen die Zahlen der Opfer, weil die Kämpfe immer näher an Dörfer und Städte in und um Berg-Karabach rücken, die seit Wochen unter aserbeidschanischem Raketenbeschuss kommen. Armenien hat derweil mehrere Raketen auf Aserbeidschan abgeschossen, auch auf Städte weit ausserhalb des Konfliktgebiets. Beide Seiten beklagen Dutzende tote Zivilisten. Die Zahl der getöteten Soldaten, welche die Kriegsparteien nicht oder nur teilweise bekannt geben, gehen laut Beobachtern in die Tausende. Bis zu 5000 Todesopfer habe es bisher gegeben, sagte der russische Präsident Wladimir Putin schon vor Tagen. Moskau ist in dem Konflikt mit Armenien verbündet, pflegt aber auch freundschaftliche Beziehungen mit Aserbeidschan.
Zweimal hat Moskau ein Waffenstillstandsabkommen vermittelt – ohne Erfolg. Letzte Woche waren dann die Amerikaner dran: Er danke seinem Vermittlungsteam für den «Deal», triumphierte US-Präsident Donald Trump. «Viele Leben werden gerettet.» Doch auch dieser «Deal» hielt nur Minuten, inzwischen hat Trump seine «Enttäuschung» über das Scheitern getwittert. Und nun wird in Genf weiter verhandelt, um das Töten doch noch zu stoppen.
Aserbeidschan will nicht noch mal 30 Jahre auf eine Lösung warten.
Mit immer neuen Gesprächen hatte man den Konflikt fast drei Jahrzehnte unter dem Hut gehalten. Doch nun scheint auf der Seite Aserbeidschans die Geduld erschöpft: Man sei weiter für Verhandlungen, doch man sei auch breit, das Problem militärisch zu lösen – Aserbeidschan werde nicht noch mal 30 Jahre auf eine Lösung warten. Baku verlangt ultimativ einen Zeitplan für die Rückgabe der in den 1990er-Jahren von Armenien besetzten Gebiete. Und zumindest dabei weiss das Land das internationale Recht auf seiner Seite.
Zankapfel ist die Region Berg-Karabach, ein gebirgiges, mehrheitlich armenisch bewohntes Gebiet in Aserbeidschan. Mit dem Untergang der Sowjetunion und der Unabhängigkeit der beiden Länder verschärfte sich der Streit um die Region, die einen Anschluss an Armenien verlangte. Der Streit mündete schliesslich in einen Krieg, in dem Zehntausende Menschen getötet wurden.
Schliesslich gewann Armenien 1994: Seither ist nicht nur Berg-Karabach unter armenischer Kontrolle, Jerewan hat im Nachbarland zudem sieben Distrikte annektiert, deren Zugehörigkeit zu Aserbeidschan nie umstritten war. Hunderttausende Aserbeidschaner wurden aus ihrer Heimat vertrieben.
Die UNO hat damals mehrere Resolutionen verabschiedet, die klar festhalten, dass Armenien das besetzte Gebiet bedingungslos wieder räumen müsse. Aserbeidschan hat Berg-Karabach Autonomie versprochen. Bis heute ist man in dem Streit nicht weitergekommen: Über Abzug, Rückkehr der Vertriebenen und den Status von Berg-Karabach wird weiter gestritten.
Dabei hat die OSZE, die in dem Gebiet vermittelt, in den sogenannten Madrider Prinzipien den Fahrplan für die Lösung längst umrissen: Rückgabe der besetzten Gebiete rund um Berg-Karabach an Aserbeidschan, Garantie von Selbstbestimmung und Sicherheit für Berg-Karabach, Rückkehr der Flüchtlinge und als Letztes der Entscheid über den Status des Gebietes. So weit die Version auf dem Papier.
In der Realität versuchte Armenien, den Konflikt auszusitzen, und hoffte darauf, dass nach Jahrzehnten alle die militärisch erzwungene Realität anerkennen würden. Doch Aserbeidschan denkt nicht daran, Berg-Karabach und die umliegenden Gebiete aufzugeben. Zwischendurch war man der Lösung des Problems recht nahe, und als 2018 in Armenien mit Nikol Paschinjan ein neuer Premier an die Macht kam, der keine Wurzeln in Berg-Karabach hat, schienen die Chancen auf eine Lösung so gut nie: Die ersten Gespräche liefen gut, es war sogar davon die Rede, «die Menschen auf einen Frieden vorzubereiten».
Das brachte Paschinjan, der dank Strassenprotesten an die Macht gekommen war, eine Welle der Kritik ein, und er verschärfte seinen nationalistischen Kurs. Letzten Sommer verkündete er schliesslich bei einem triumphalen Auftritt in Stepanakert, der Hauptstadt des umstrittenen Gebiets: «Karabach ist Armenien – basta.»
An die Grenzen Berg-Karabachs vorgestossen
Seither sind die Spannungen nur noch gestiegen. Diesen Herbst schliesslich lief der Konflikt definitiv aus dem Ruder. Man werde nicht mehr jahrzehntelang verhandeln, sondern das Problem zur Not mit Gewalt lösen, sagt die aserbeidschanische Führung und verlangt ultimativ einen strikten Zeitplan für einen armenischen Abzug.
Baku hat die letzten Jahre militärisch massiv aufgerüstet, seine Armee reformiert und steht heute weit stärker da als im Krieg der 1990er-Jahre. In der Türkei und in Israel hat das Land moderne Kampfdrohnen eingekauft und Soldaten für deren Einsatz trainieren lassen, offenbar auch in der Türkei. Vor allem im Süden des Konfliktgebiets hat Aserbeidschan entlang der Grenze zum Iran inzwischen Teile des besetzten Gebiets zurückerobert und stösst an die Grenzen des dicht besiedelten Berg-Karabach vor.
Armenien gibt in Anbetracht der Verluste Durchhalteparolen aus, doch Experten sind überzeugt, dass das verarmte Land mit seiner veralteten Armee keine Chance hat, die Verluste wieder wettzumachen. Jerewan hat seinen Verbündeten Russland aufgefordert, militärisch einzugreifen. Moskau hat zwar ein Verteidigungsabkommen mit Armenien, allerdings hat Putin unlängst erklärt, dass sich dies nicht auf die in Aserbeidschan annektierten Gebiete erstrecke. Russland werde nur intervenieren, wenn Armenien selber angegriffen werde. Etwas, was Aserbeidschan tunlichst vermeiden dürfte.
Derweil rücken die Chancen auf eine Verhandlungslösung mit jedem Tag in weitere Ferne, denn jeder Tag vertreibt mehr Menschen aus dem Kampfgebiet, fordert Tote und Verletzte. Zehntausende Menschen sind schon vor dem aserbeidschanischen Beschuss nach Armenien geflüchtet, viele sitzen in Berg-Karabach in Luftschutzbunkern fest. Armenien hat Raketen bis weit ins Landesinnere gefeuert, etwa nach Ganja, der zweitgrössten Stadt Aserbaidschans, die 100 Kilometer von der Frontlinie entfernt liegt.
Gleich nach Verkündung des ersten Waffenstillstands wurde dort mitten in der Nacht ein Wohnviertel von Raketen getroffen. Bei einem neuen Raketenangriff nahe der aserbeidschanischen Stadt Barda wurden diese Woche offenbar mindestens 20 Menschen getötet.
Deshalb gehen die Emotionen hoch zwischen den beiden Völkern, die exzessive Gewalt und Gräuel der Gegenseite beklagen – das Leid der anderen jedoch oft komplett ausblenden und als feindliche Propaganda abtun. Die Gewalt hat auf beiden Seiten erneut tiefe Wunden geschlagen und alte aufgerissen. Und viele Menschen auf beiden Seiten der Frontlinie sagen bereits jetzt, dass sie sich ein Zusammenleben in Berg-Karabach nicht mehr vorstellen können – zu viel Leid sei geschehen.
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