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Verleihung der Nobelpreise 2022
Französische Autorin Annie Ernaux erhält den Literatur­preis

Ernaux bei einem Screening ihres Films «Les années Super-8» im Mai dieses Jahres.
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Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux wird in diesem Jahr mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Das gab die für die renommierte Auszeichnung zuständige Schwedische Akademie am Donnerstag in der Altstadt von Stockholm bekannt. Sie bekomme den Preis «für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Beschränkungen der persönlichen Erinnerung aufdeckt», sagte der Ständige Sekretär der Akademie, Mats Malm, bei der Preisbekanntgabe. Man habe sie telefonisch noch nicht erreichen können, sagte Malm.

Ernaux war schon seit vielen Jahren als Anwärterin auf den Nobelpreis gehandelt worden. Sie ist die Urmutter der Autofiktion und hat mit ihrem analytischen Blick auf die europäische Gesellschaft und ihre Machtstrukturen bereits Literaturgeschichte geschrieben. Mit ihrem Roman «Les années» wurde sie in Frankreich 2008 bekannt, die deutschsprachige Übersetzung erschien erst 2017. Seitdem ist Ernaux auch im deutschsprachigen Raum aus dem literarischen Diskurs nicht mehr wegzudenken.

Sie hat rund 20 literarische Werke verfasst, ins Deutsche übersetzt wurden unter anderem «Eine Frau», «Die Scham» und «Erinnerung eines Mädchens». In ihrem Werk seziert Ernaux die Erfahrungen von Mädchen und Frauen in der französischen Gesellschaft seit Ende des Zweiten Weltkriegs.

Ernaux erzählt von der eigenen Familie, ihrem Bildungsaufstieg, ihrer Abtreibung. Nahezu nebenbei verwebt sie das Autobiografische mit Analysen über Klassenschranken und das Patriarchat. Ihre eigene Geschichte dient ihr als Untersuchungsgegenstand und verdeutlicht so, dass gerade der trivial anmutende Alltag oft hochpolitisch ist.

In bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen

Die 82-jährige Schriftstellerin bezeichnet sich als Ethnologin ihrer selbst. Ihre Bücher schaffen es regelmässig auf deutsche Bestsellerlisten. Eines ihrer jüngsten auch in deutscher Sprache erschienenen Werke trägt den Titel «Das Ereignis». Das fast autobiografische Buch handelt von den fast schon grausamen Versuchen der Autorin abzutreiben, in einer Zeit, in der die Abtreibung noch als unmoralisch und kriminell betrachtet wurde. Verfilmt wurde die Geschichte von Audrey Diwan, die dafür im vergangenen Jahr den Goldenen Löwen des Filmfestivals von Venedig erhielt.

Ernaux wurde 1940 in Lillebonne in der Normandie geboren und wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf. Ihr Vater verdiente den Lebensunterhalt als einfacher Arbeiter. Ihre Kindheit war geprägt vom frühen Tod ihrer älteren Schwester. Nach dem Studium der Neueren Literatur wurde sie Gymnasiallehrerin.

Rückschau wird erfolgreichstes Buch

Im Jahr 1974 erschien ihr erster Roman «Les armoires vides» (dt. «Die leeren Schränke»). Als sie sich 1980 scheiden liess, war sie Mutter von zwei Kindern. 1984 erschien «La Place» (dt. «Der Platz»). Der Roman, für den sie den renommierten Renaudot-Preis erhielt, handelt von ihrem Vater und ihrem eigenen sozialen Aufstieg. In «Eine Frau» beschwört sie die Erinnerungen an ihre Mutter herauf, in «Passion simple» ihre Liebesbeziehung zu einem verheirateten Mann.

Zu ihren erfolgreichsten Büchern gehört «Les années», «Die Jahre», aus dem Jahr 2008. Das Werk ist eine Rückschau auf 60 Jahre ihres Lebens, ein Blick auf eine Frau, die sich verändert – zusammen mit der Welt.

Ihr Erzählstil ist neutral, distanziert. Sie selbst bezeichnet ihn als objektiven Stil, der die erzählten Tatsachen weder auf- noch abwertet. Als Ernaux 2019 mit dem deutsch-französischen Prix de l’Académie de Berlin ausgezeichnet wurde, lobte die Jury ihre Schriftstellerei als «hochmoderne, gewagte, meisterlich komponierte Literatur, die von Klassenkämpfen, den Zumutungen kultureller Differenz und der Emanzipation der Frauen erzählt».

Kreml-Kritikerin war Mitfavoritin

Der Nobelpreis für Literatur gilt als die prestigeträchtigste literarische Auszeichnung der Welt und ist mit umgerechnet rund 910’000 Franken dotiert. Auf der sogenannten Longlist für den Preis standen in diesem Jahr 233 Kandidaten – welche Namen darunter sind, wird alljährlich streng geheim gehalten.

Im Vorfeld erwarteten manche Beobachterinnen und Beobachter, dass der Literaturpreis angesichts des Ukraine-Krieges mit einer politischen Botschaft verbunden sein könnte. Die russische Kreml-Kritikerin Ljudmila Ulitzkaja war in den vergangenen Jahren bereits als Kandidatin gehandelt worden – nach Einschätzung von Literaturkritikern galt sie nun als Mitfavoritin.

Als mögliche Gewinner des höchsten Literaturpreises wurden auch die US-Romanautorin Joyce Carol Oates, die Kanadierin Margaret Atwood und der Japaner Haruki Murakami gehandelt, ausserdem der Franzose Michel Houellebecq. Auch Annie Ernaux galt als Favoritin auf den Preis.

Im vergangenen Jahr war der Literaturnobelpreis an den bis dahin relativ unbekannten tansanischen Schriftsteller Abdulrazak Gurnah gegangen. Er wurde «für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals des Flüchtlings in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten» geehrt. Im Jahr davor hatte die amerikanische Dichterin Louise Glück den Nobelpreis erhalten – auch sie galt vorab nicht als eine der zahlreichen Favoritinnen und Favoriten.

AFP/ij