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Meinung

Kolumne «Miniatur des Alltags»
Wenn der Blick fürs Ganze fehlt

Das Gras kann noch so saftig sein: Pferden fällt sofort auf, wenn es im Zaun eine Lücke gibt.

Es ist eine meiner schlechten Angewohnheiten. Zwar bin ich in der Regel um Pünktlichkeit bemüht. Wenn ich im Schuss bin, was leider ziemlich oft der Fall ist, geht das Auf-die-Uhr-Sehen bei mir aber so: Okay, es ist 13 nach. Ich habe also noch etwas mehr als eine Stunde Zeit. Merke aber nicht, dass gar nicht 13 nach eins ist, sondern 13 nach zwei.

Darum ist es mir auch schon passiert, dass ich unseren Sohn und sein Gschpänli nach dem Mittagessen eine Stunde zu spät zur Schule geschickt habe. Ab und zu erwache ich auch eine Stunde zu spät, weil ich natürlich die Anzeige meines Weckers ebenfalls meist nur halb überprüfe.

Schlecht ist an dieser schlechten Angewohnheit vor allem, dass ich es gar nicht schlimm finde. Ausser wenn ich anderen damit Stress bereite. Denn häufig erschleiche ich mir ja mehr Zeit. Wem schadet es schon, etwas länger zu spielen oder zu schlafen? Und der Rückstand lässt sich meist aufholen.

Ein Erlebnis hat mir jedoch kürzlich vor Augen geführt, dass ich dem fehlenden Blick fürs Ganze weniger nonchalant begegnen sollte. Wir waren unterwegs auf einem mehrtägigen Ritt im Engadin. Wir hatten gerade die Pferde abgesattelt, waren dabei, sie auf die Weide zu führen und dort loszulassen. Da kam die Wirtin aus der angrenzenden Schaukäserei auf uns zu. «Ihr habt schon gesehen, dass der Hirt seinen Teil des Zauns abgebaut hat?»

Nein, hatten wir nicht. Der Besitzer der Ranch, mit dessen Pferden wir unterwegs waren, offenbar auch nicht – obwohl er seinen Teil des Zauns noch kontrolliert hatte. Gesehen, dass die Hälfte des Zauns fehlte, hatten natürlich die Pferde. Sie galoppierten los. Weil es ausgeglichene Tiere sind, konnten wir sie trotzdem rasch wieder einfangen und damit vermeiden, dass es auf den nahe gelegenen Bahngleisen zu einem Unfall kam.

Sosehr ich den Pferden ihren Moment der Freiheit gegönnt habe – ich bemühe mich seither wieder mehr um den Blick fürs Ganze. Nicht immer erfolgreich.