Milo Raus «Wilhelm Tell»«Weg mit allem, was uns entmenschlicht»
Wie Milo Rau am Pfauen in seinem «Wilhelm Tell» kleine Revolutionen versucht – und uns mitnimmt. Smart.
Wenn Milo Rau Welt auf die Bühne hebt, bebt es in den Medien, und das Theater bibbert. Denn so nah wie er geht sonst keiner ran ans Ungemütliche. Diesmal aber erschrickt man eher darüber, wie witzig sein «Wilhelm Tell» frei nach Friedrich Schiller auf der Zürcher Pfauenbühne daherkommt. Lässig, smart, souverän!
Und trotzdem hat der Leiter des Niederländischen Theaters Gent es geschafft, dem wichtigsten Paragrafen seines Genter Manifests treu zu bleiben: «Es geht nicht mehr nur darum, die Welt darzustellen. Es geht darum, sie zu verändern. Nicht die Darstellung des Realen ist das Ziel, sondern dass die Darstellung selbst real wird.»
Die fünf Profi-Schauspielenden und rund doppelt so viele Laien zitieren nicht bloss aus dem Klassiker von 1804, über den man nichts mehr zu sagen braucht (Apfelschuss-Szene, Hohle Gasse usw.). Sondern vor allem reichen sie uns ihre eigenen Geschichten, verschränken den Mythos vom Freiheitshelden und dem Rütlischwur der Urschweizer mit ihrer privaten Suche nach Freiheit – die politische Implikationen hat, sowieso: Migration, Rassismus, Ableismus (Diskriminierung von Menschen mit Beeinträchtigungen).
Schon in den «Vorspielen» in den Wochen vor der Premiere hatte Milo Rau diesen Geschichten Raum und Realität gegeben. Da hielt etwa die Füsilier-Offizierin Sarah Brunner in der Wasserkirche symbolisch Hochzeit mit dem Sans-Papiers Hermon Habtemariam und warb für die Züri City Card, über die jetzt abgestimmt wird. Auf der Pfauenbühne findet diese Hochzeit nun zum zweiten Mal statt. Schliesslich heiratet am Schluss von Schillers Drama die (herrschaftliche) Fremde Berta den hiesigen Ulrich («So reich ich diesem Jüngling meine Rechte / Die freie Schweizerin dem freien Mann!»). Die Inszenierung rutscht dabei auch mal ins nur sanft selbstironische Mitmachtheater: Bitte alle aufstehen, Arme hoch, die Nationalhymne mitgospeln.
Cem Kirmizitoprak, «Inklusionsagent» im Rollstuhl, der aus St. Gallen kommt, wo 80’000 Stufen ihn zum Gefangenen machen, predigt dazu: «Ich sage euch: Werdet euch einig! Wir brauchen Bildung für alle, Arbeitsrecht für alle, Stimmrecht und Wahlrecht für alle!» Klar, dass dieser Traum ein Traum bleibt. «I’m gonna see some folks who have already been burnt down. I’m so tired of you, Switzerland», singt Maya Alban-Zapata, Person of Color, die man – wie sie während des Abends berichtet – hatte abschrecken wollen, in der Inszenierung mitzutun. Sie nahm sich trotzdem die Freiheit, einfach zu spielen.
Das Spiel sei eben auch eine Form der Geistigen Landesverteidigung, sagt Ensemblemitglied Karin Pfammatter, gebürtige Walliserin, zu Beginn der Aufführung in den Worten von Oskar Wälterlin. Der 1938 neu angetretene Zürcher Schauspielhausdirektor erklärte damals, die Freiheit führe zum höchsten Gut, das kulturelles Leben schaffen könne: zur Humanität. Und selbst Sebastian Rudolphs tyrannischer Vogt Gessler hat hier menschliche Schwächen, erotische Fantasien, schrumpft zum Zwerg im grossen Getriebe, will eigentlich nichts anderes als «adabei» sein beim herzerwärmenden Schwur auf dem Rütli. Vergeblich.
Rudolph trägt eine Nazi-Uniform (Kostüme und Bühne: Anton Lukas) und erinnert an Christoph Schlingensiefs Zürcher «Hamlet»-Inszenierung im Jahr 2001: In ihr spielte er den Titelhelden und hatte ein wenig Angst vor einem der angeblich aussteigewilligen Neonazis, die Schlingensief mit ins Boot geholt hatte. Mit der Zeit jedoch entwickelte sich zwischen ihm und Rudolph eine Freundschaft.
In Shakespeares «Hamlet» wird ein Stück im Stück zum psychologischen Beweis dafür, dass ein Mord geschah. Bei Rau flottieren Stücke von Stücken im Stück als Realitätssplitter. Es gibt Tonaufnahmen und Fotozitate aus Wälterlins «Tell»-Inszenierung (1939), Verweise auf Michael Neuenschwander als Tell 2013, auf Maja Beckmanns frühe «Schneekönigin»-Aufführung mit schlichter Fiktionsmaschine, einem Tuch und sonst nichts; hier erzählen, spielen und musizieren sie beide. Und es gibt Video-Einspieler wie jenen von Irma Freis Performance in der Bührle-Sammlung samt dem Slogan «Hängt den Bührle an ein Schnürle».
Frei hatte, wie sie auf der Bühne rekapituliert, als junge Frau in den 1960-ern Zwangsarbeit für den Waffenfabrikanten Bührle leisten müssen. Die Vormundschaftsbehörde hatte die 17-Jährige dazu gezwungen, in Bührles Spinnerei Dietfurt zu schuften. Der Lohn nach drei Jahren Plackerei unter gefängnisartigen Umständen: 50 Franken. Bis heute steht eine Entschuldigung aus. «Letztes Jahr wurde hier ganz in der Nähe ebenfalls eine Zwing-Burg gebaut: der Anbau des Kunsthauses, in dem die Waffenfirma Bührle ihre Sammlung zeigt», heisst es in Raus «Tell».
Vanessa Gasser wiederum, eine Pflegerin, erzählt von den Zwängen in Pflegeheimen, in denen kein Bewohner selbst entscheiden darf, wann er aufsteht, isst, schlafen geht. Und Meret Landolt, eine junge Mutter mit verkrüppelten Armen, deutet den Kaisermörder in Schillers «Tell» zum wahren Revolutionär um: «Er sagt: Der Vogt ist nicht das Problem. Sondern das ganze System ist das Problem. Weg mit allem, was uns entmenschlicht.»
Milo Rau hat mitten hineingegriffen in helvetische Wirklichkeiten – von der des Jägers bis zu jener der Gejagten – und sie scheinbar willkürlich hineingewirbelt in den Mythos. Heraus kam ein flockig-flattriges, aber echtes Theater für die Stadt (das ohne Hintergrundwissen wohl kaum verstanden wird). Und die systemtreue Theaterberggängerin applaudiert: läuft bei ihm.
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