Leser fragenWarum kommentieren so viele?
Onlinekommentare werden gern geschrieben – aber seltener gelesen.
Zu den meisten Onlineartikeln (im Tagi oder sonst wo) gibt es Dutzende, wenn nicht Hunderte Kommentare. Die Diskussionen werden engagiert geführt, interessieren aber (eigentlich) niemanden. Warum tun sich die Kommentierenden das an? A.R.
Lieber Herr R.
Das habe ich mich auch schon oft gefragt, und zwar mit jenem entnervten Unterton, der die Antwort nahelegt: Die spinnen doch, zu jedem Scheiss (oder auch Nicht-Scheiss) unbedingt auch noch ihren Senf dazugeben zu müssen. – Look, who’s talking, könnte man dagegen einwenden: Muss ausgerechnet der Schneider sagen, der das Senfdazugeben zu einem seiner Berufe gemacht hat. – Eben, antworte ich auf diesen wenig überraschenden Einwand: Genau das macht den Unterschied. Ich verdiene Geld damit. It’s a job. Ich käme doch nie auf die Idee, gratis die Leute mit meinen Ansichten zu Gott und der Welt beglücken zu wollen.
Damit ist der innere Disput aber noch nicht ausgestanden: Wenn der feine Herr das Gratiskommentieren so verächtlich findet, was soll am bezahlten Kommentar dann so viel edler sein? Anders ausgedrückt: Warum verdienen Sie nicht mit etwas unzweifelhaft Anständigem Ihr Geld? – Beenden wir hier das virtuelle Streitgespräch mit meinem virtuellen Widersacher mit dem Zwischenstand von 0:1 (für den Widersacher). Bis jetzt scheinen mir selbst all meine Argumente eher dünkelhaft als überzeugend. Warum kann ich mich nicht einfach geschlagen geben und anerkennen, dass in den letzten Jahren eine neue Form der Öffentlichkeit entstanden ist, die sich nicht mehr auf einer redigierten Leserbriefseite äussert (zu einem konkreten Artikel in einer bestimmten Zeitung), sondern die Foren der verschiedenen Medien als einen offenen Debattierplatz unter vielen anderen nutzt?
Ich glaube, das ist so, weil der Aufstieg dieser neuen Form der Öffentlichkeit – die man ja ebenso als eine demokratische Errungenschaft begrüssen könnte – mit dem langsamen Absterben der abonnierten Qualitätsmedien einhergeht; weil sie den Schatten der Dystopie einer Gratispresse vorauswirft, in welcher Leserreporterinnen für Leserinnenleser berichten und Leserleserinnen Leserinnenreporter (oder was immer) kommentieren – moderiert durch eine Restredaktion, deren Hauptaufgabe darin besteht, den Leserinnenleserreporterinnen zu versichern, dass sie mitdiskutieren sollen, weil «uns deine Meinung interessiert». (Das mag nicht einmal gelogen sein; das macht es freilich nicht besser, sondern schlimmer.) Ich glaube, darin liegt die persistierende Entnervtheit begründet: in der Ahnung, dass das zweifelhafte Niveau dieses ungerichteten Jekami-Meinens nicht nur die Zukunft der Presse sein könnte, sondern teils auch schon ihre Gegenwart darstellt.
Der Psychoanalytiker Peter Schneider beantwortet Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an gesellschaft@tagesanzeiger.ch.
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