Leser fragenWarum ist die Stimmung bei der Impffrage so schnell gekippt?
Statt über Risiken zieht man inzwischen lieber über die reichen Vordrängler her und missgönnt den Alten die Impfung.
Noch vor einem Monat wollte sich die Mehrheit der Bevölkerung um keinen Preis impfen lassen. Und nun kann es vielen Menschen keinen Tag zu lang gehen, bis sie endlich an die Nadel kommen. Gerade auch beim sonst sehr impfskeptischen Gesundheitspersonal erstaunt dieser Umschwung doch stark. Denn bisher war ich der Meinung, dass die Impfskepsis in dieser Gruppe etwas faktenbasierter ist als in der Normalbevölkerung. Doch die Fakten haben sich nicht geändert. Was ist es dann? E.D.
Liebe Frau D.
Mit den Umfragen zur Impfbereitschaft ist es vermutlich wie mit den Umfragen zu Volksinitiativen. Je näher der Abstimmungstermin rückt – oder in diesem Fall: je näher die Möglichkeit kommt, sich impfen zu lassen –, desto mehr kippt die Stimmung.
Das hat nichts damit zu, dass die Hardcore-Impfverweigerer plötzlich ins andere Lager der Impfenthusiasten gewechselt wären: Aus Ich-lasse-mich-doch-nicht-von-Bill-Gates-mit-einem-Chip-versehen-wegen-eines-Virus-das-es-gar-nicht-gibt-Leuten werden nicht von einem Tag auf den anderen sogenannte Impfdrängler. Vielmehr wollen sich jetzt auch die impfen lassen, die, als es noch keinen Impfstoff gab, nicht als jene erscheinen wollten, die schon in «vorauseilendem Gehorsam» blind einer Impfung zustimmen wollten und darum lang und breit ihre Zweifel erklärten.
Kein Schwein interessiert sich für Impfskeptiker in einer Situation, in der Impfunwillige Impfwilligen Platz machen.
Nun, da es klar ist, dass es statt eines (herbeigeredeten) Impfzwangs zu wenig Impfdosen gibt, die ihrerseits bis jetzt keine gravierenden Nebenwirkungen gezeitigt haben, sieht die Lage anders aus. Da zieht man statt über Risiken lieber über die reichen Vordrängler her und missgönnt den Alten die Impfung, weil die ja ohnehin bald sterben, ob an oder mit Corona und mit oder ohne Spritze. Kein Schwein interessiert sich für Impfskeptiker in einer Situation, in der jeder Impfunwillige einen Impfwilligen einen Platz auf der imaginären Warteliste vorrücken lässt.
Was Sie beobachten, ist also keine bedeutsame Verschiebung in den Mehrheitsverhältnissen, sondern eine Verschiebung des Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit und Aufmerksamkeitsbewirtschaftung unter den Bedingungen der Impfstoffknappheit. Wenn selbst Milliardäre einige Anstrengungen unternehmen müssen, um in den Genuss einer Impfung zu kommen, sind die Bedenken eines knuschtigen Provinz-Waldorf-Lehrers hinsichtlich der Schädigung des ätherischen Leibs durch eine Impfung nicht mehr so wahnsinnig prickelnd. Und man wird sich eher hüten, auch nur annähernd mit so jemandem in Verbindung gebracht zu werden.
Der Schauer des Publikums über anthroposophische Paramedizin erschöpft sich mit der Zeit ebenso wie der Grusel über Verschwörungstheorien und deren Exponenten.
Der Psychoanalytiker Peter Schneider beantwortet Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an gesellschaft@tamedia.ch.
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