Journalismus in FrankreichWarum eine legendäre Satirezeitung ins Visier der Justiz geraten ist
Der «Canard Enchaîné» hat Ministerinnen gestürzt und Präsidenten verhindert. Jetzt steht die französische Satirezeitung wegen einer Scheinbeschäftigungsaffäre selbst in der Kritik. Und nicht nur deshalb.
Fünf Jahre ist es her, da hat die französische Satirezeitung «Canard Enchaîné» einen potenziellen Präsidenten gestürzt. François Fillon, damals Präsidentschaftskandidat der französischen Republikaner, galt lange als Favorit der Wahl – bis der «Canard» enthüllte, dass Fillon seine Ehefrau scheinbeschäftigt hatte. Es folgten noch ein paar weitere unschöne Details und Ermittlungen der Justiz. Am Ende schied der Republikaner im ersten Wahlgang aus, Präsident wurde Emmanuel Macron.
Nun ist es ausgerechnet der nicht erst damals für seinen investigativen Journalismus gefeierte «Canard», der wegen einer Scheinbeschäftigungsaffäre in der Kritik steht. Ein Mitarbeiter hat die Zeitung verklagt, weil die Lebensgefährtin eines Zeichners 24 Jahre lang Geld bekommen haben soll, ohne je wirklich für die Zeitung gearbeitet zu haben. Offenbar soll es um eine Summe von drei Millionen Euro gehen. Der Mitarbeiter, der die Klage eingereicht hat, gehörte übrigens zu dem Rechercheteam, das vor fünf Jahren den Skandal um François Fillon aufdeckte.
Die «angekettete Ente»
Die ganze Sache trifft den«Canard Enchaîné» schwer. Bisher war er es schliesslich, der über die Vergehen der anderen spöttelte. Die Zeitung ist, dieses Wort kann man in diesem Fall wirklich gelten lassen, eine Institution in Frankreich. «Canard Enchaîné» heisst auf Deutsch «angekettete Ente», eine Ente ist im umgangssprachlichen Französisch auch Zeitung, die Kette spielt auf die Zensur im Gründungsjahr 1915 an. Die Wochenzeitung erscheint jeden Mittwoch, das Layout hat sich in den vergangenen hundert Jahren nur unwesentlich verändert. Auf den Seiten wechseln sich Texte und Zeichnungen ab. Auf der ersten und letzten Seite gibt es ein paar rote Überschriften, der Rest ist schwarzweiss.
Die Zeitung gilt als politisch und wirtschaftlich unabhängig, auf Werbung verzichtet sie komplett. Ihre Mischung aus Satire und investigativer Recherche ist auf dem französischen Zeitungsmarkt ziemlich einzigartig – und nicht nur dort. Seit seiner Gründung hat der «Canard Enchaîné» etliche Politikerinnen und Politiker gestürzt und Skandale aufgedeckt. Zum Beispiel, wie ein Staatssekretär von Nicolas Sarkozy auf Kosten der Steuerzahler für 12’000 Euro Zigarren kaufte. Oder wie Präsident Valéry Giscard d’Estaing sich in den Siebzigerjahren von einem zentralafrikanischen Diktator Diamanten im Wert von einer Million Francs schenken liess.
Jetzt also ermitteln die Behörden beim «Canard Enchaîné» selbst. Im Sommer hat die Pariser Staatsanwaltschaft eine Voruntersuchung eingeleitet und verhört seitdem die Mitglieder der Redaktion. Einige von ihnen melden sich, meist anonym, auch in anderen französischen Medien zu Wort. Sie sprechen zum Beispiel davon, dass der Zeichner André Escaro einen Sonderstatus gehabt habe. Der 94-Jährige arbeitet seit über 40 Jahren für den Canard. Bis Juni dieses Jahres sass er auch im Verwaltungsrat der Zeitung.
Ende August reagierte das Blatt zum ersten Mal selbst auf die Vorwürfe, mit einer Stellungnahme seines Verwaltungsrates auf der Titelseite. Die Karikatur dazu ist klassisch «Canard Enchaîné», sie zeigt eine Frau, die durch eine Zeitung mit weissen Seiten blättert. «Das ist eine Schein-Zeitung», sagt der Mann neben ihr. «Der ‹Canard› erfindet sich neu», steht darunter.
Fragt man beim «Canard Enchaîné» ein Interview zu der Scheinbeschäftigungsaffäre an, ruft kurze Zeit später der Herausgeber Nicolas Brimo zurück. «Es gibt keine Scheinbeschäftigung bei uns», sagt er.
Der Text der Stellungnahme ist weniger selbstironisch. Der von vielen Medien bemühte Vergleich mit dem Skandal um Fillons Ehefrau sei nicht gerechtfertigt, heisst es darin unter anderem. Die Zeitung habe Escaros Lebensgefährtin angestellt, um den Zeichner davon zu überzeugen, auch über die Rente hinaus für die Zeitung zu arbeiten. Escaro und seine Frau hätten zusammengearbeitet, sie habe in der Presse nach Informationen gesucht, auf deren Grundlage er dann habe zeichnen können. Kurz nach der Veröffentlichung der Stellungnahme distanzierten sich 14 Mitarbeitende der Zeitung von dem Text. Die Frau von Escaro sei den Kollegen in der Redaktion nicht bekannt gewesen, schreiben sie in einer Erwiderung.
Fragt man beim «Canard Enchaîné» ein Interview zu der Scheinbeschäftigungsaffäre an, ruft kurze Zeit später der Herausgeber Nicolas Brimo zurück. «Es gibt keine Scheinbeschäftigung bei uns», sagt er. Er habe der Stellungnahme des Verwaltungsrates nichts hinzuzufügen. «Das ist, was wir denken und was wir zu der Sache zu sagen haben.» Ein bisschen mehr sagt er dann aber doch noch.
Denn die Kritik, die viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter jetzt an der Zeitung üben, hat nicht nur mit der Scheinbeschäftigungsaffäre zu tun, sondern auch mit dem allgemeinen Arbeitsklima im Haus. Der «Canard» entspreche einer Redaktion aus den Fünfziger- oder Sechzigerjahren, wird eine Stimme aus der Redaktion in der Zeitung «Le Monde» zitiert. Die altgedienten Chefs hätten Angst, neue Leute einzustellen und ihren Einfluss zu verlieren, eine andere.
«Unsere Zeitung mag von alten Leuten geführt werden, aber sie wird gut geführt», sagt Nicolas Brimo. Tatsächlich ist der Verlagschef Michel Gaillard 78 Jahre alt, die beiden Chefredaktoren sind 73 und 59. Herausgeber Brimo (71) sagt: «Man braucht nun mal, gerade in Führungspositionen, eine gewisse Erfahrung, um für uns zu arbeiten.» Auch dass unter den 23 festangestellten Redaktionsmitgliedern nur sieben Frauen sind, hält er nicht wirklich für ein Problem. «Wir haben in etwa den gleichen Frauenanteil wie das französische Parlament.»
«Wir leben ja nicht ewig»
Was auch Brimo nicht wegwitzeln kann: Die gedruckte Auflage des «Canard Enchaîné» ist in den vergangenen Jahren deutlich gesunken, von etwa 500’000 im Jahr 2011 auf rund 280’000 im Jahr 2021. Seit gerade mal zwei Jahren lässt sich die Zeitung in einer Onlineversion abonnieren, andere digitale Inhalte gibt es nicht. Dabei kommt aus dem Internet wesentliche Konkurrenz: Das Onlineportal Mediapart, das sich über Abonnenten finanziert, sorgte in den vergangenen Jahren immer wieder mit Enthüllungen für Aufmerksamkeit.
«Das Digitale ist wirklich ein Problem, da haben wir es als Wochenzeitung schwer», sagt «Canard»-Herausgeber Nicolas Brimo. Seit dem Sommer versuche man deshalb zum Beispiel mit Digitalisierungs-Workshops nachzuhelfen. Auch an der Einstellung von neuen Leuten arbeite man. Auf die Frage, ob die Zeitung auch gezielt versuche, die Redaktion zu verjüngen, antwortet er: «Was soll denn das überhaupt heissen, Verjüngung? Das passiert doch von ganz allein. Wir leben ja nicht ewig.»
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