Leser fragenWarum beschweren sich andere, wenn man dauernd am Handy ist?
Die Antwort auf eine Leserfrage zum Thema Selbstdisziplin in der Digitalisierung.
Viele holen das Handy hervor, weil sie schauen wollen, ob sie eine Nachricht bekommen haben, oder weil sie den alltäglichen Unfug vergessen möchten. Aber kaum haben sie das Handy in der Hand, heisst es: «Wow, du bist so ein ‹Suchti›.» Warum beschweren sich andere darüber, dass man das Handy benutzt – selbst wenn man ruhig im Bus sitzt, Musik hört und dabei niemanden stört? Früher hat man sich doch auch hinter einer Zeitung versteckt. M.S.
Liebe Frau S.
Eben, das ist das Problem: Früher hat man noch, und früher war bekanntlich alles besser. Genauer gesagt: Je früher, desto besser wars.
Als man sich zum Beispiel noch nicht hinter der Zeitung versteckt hat, hat man morgens im Tram fröhlich miteinander darüber geschwätzt, was es an Neuigkeiten im Dorf gibt. Das war ungefähr kurz vor der Erfindung des Fliessbands. (Wer sich früher übrigens wirklich hinter seiner Zeitung im ÖV versteckt hat, weiss, dass eine einzige ausgebreitete FAZ ausreicht, um dahinter drei Leute zu verstecken, und hat daher gelernt, Zeitungen im Handy- oder Tablet-Format zu schätzen. Die Mitreisenden übrigens auch.)
Ich finde die Handy-Herumkrittel-Manie in der Tat weit nerviger als deren Gegenstand. Natürlich eignet sich das Handy zum Beispiel dazu, sich von der Arbeit abzulenken beziehungsweise sie vor sich herzuschieben. Man kann sich aber auch dadurch vor der Arbeit drücken, dass man den neuen Tschibo-Prospekt oder den Ikea-Katalog zum wiederholten Male durchblättert. Handygespräche in der Öffentlichkeit mit anhören zu müssen, ist – wenn man seine Ruhe will – lästig, aber auch nicht lästiger, als Livegespräche zu verfolgen. Allenfalls ist es etwas anstrengender, weil man immer raten muss, was die Stimme am anderen Ende der Funkverbindung sagt.
In einer Gesellschaft, deren Funktionieren ohne Smartphone man sich nicht vorstellen kann, hält sich das Anti-Handy-Ressentiment wie ein traditionelles Kulturgut.
Warum man seine Musik nicht über das Handy in die Kopfhörer streamen soll (möglichst, ohne die Umwelt an den Bässen teilhaben zu lassen), ist ebenfalls nicht einzusehen. In einer Gesellschaft, deren Funktionieren ohne Smartphone man sich so wenig vorstellen kann wie ein Leben ohne Kühlschrank, hält sich das Anti-Handy-Ressentiment freilich wie ein traditionelles Kulturgut.
Ein Experte (einer von vielen, für was genau auch immer) wie Manfred Spitzer hat aus seinen Aversionen eine Geschäftsidee gemacht und tingelt seit mehr als einem Jahrzehnt mit den Thesen aus seinen Büchern «Digitale Demenz», «Cyberkrank» oder «Die Smartphone-Epidemie. Gefahren für Gesundheit, Bildung und Gesellschaft» durch die Lande. – Sie sehen, ich bin ganz bei Ihnen und Ihrem Handy.
Der Psychoanalytiker Peter Schneider beantwortet jeden Mittwoch Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an gesellschaft@tagesanzeiger.ch
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