GraubündenWandern auf Goethes Spuren
Die gewaltige Viamala-Schlucht, die berühmte Kirche von Zillis oder leckere Capuns: Die Via Spluga ist reich an Attraktionen.
Heute würde er vermutlich als Reise-Influencer durchgehen. Denn er trug zur Bekanntheit der Viamala in Graubünden bei, sehr lange vor der Zeit der Social Media. Auf dem Rückweg von seiner ersten Italienreise pausierte Johann Wolfgang von Goethe in der sagenumwobenen Schlucht zwischen Thusis und Zillis, hielt die raue Schönheit mit Pinsel und Farbe und in etlichen Schriften fest. Und weil der deutsche Dichter bereits zu Lebzeiten im 18. Jahrhundert den Status eines Superstars innehatte, taten es ihm seine «Follower» gleich und reisten in die Schweiz.
An den 300 Meter hohen Schieferwänden tropft Wasser, Regenbogen spannen sich über Wasserfälle.
Dreihundert Jahre später hat die wie mit einem Riesenbeil in den Berg gehauene Schlucht nichts von ihrem Zauber verloren, nur der Weg ist nicht mehr so mühsam wie einst. 359 Stufen führen vom Besucherzentrum hinab zum Hinterrhein. In Jahrtausenden hat das Gletscherwasser Strudeltöpfe in den Stein gehöhlt. Die Szenerie erinnert an «Heidi»- und «Ronja Räubertochter»-Filme. An den 300 Meter hohen Schieferwänden tropft Wasser, Regenbogen spannen sich über Wasserfälle, Nebelschwaden steigen auf zu Fichten und Rottannen. Jauchzer hallen von der Schlucht empor, wenn abenteuerlustige Besucher in Neoprenanzügen sich beim Canyoning vom jadegrünen Wasser bis nach Rongellen treiben lassen.
Einst kürzester Weg nach Italien
Thusis erlangte mit dem Ausbau der Wege durch die Viamala 1473 das Transportmonopol und diente als Ausgangspunkt für die Alpenüberquerung. Der Weg durch die Viamala war der kürzeste nach Italien. Römische Legionäre hatten erste Pfade gebaut, später transportierte man auf Saumpferden Früchte, Wein und Seide über die Alpen. Noch immer kann man auf den Spuren der Säumer wandeln.
Der Kultur - und Weitwanderweg Via Spluga wurde 2000 als touristische Marke lanciert, in diesem Jahr feiert die viertägige Etappenwanderung von Thusis nach Chiavenna 20-Jahr-Jubiläum. Die 65 Kilometer lange Route führt durch Schluchten, Täler und über den Splügenpass. Die erste Etappe passiert die Burganlage Hohen Rätien, anschliessend geht es über die Hängebrücke Traversinersteg und durch die Viamala-Schlucht ins Schamsertal. Wer mag, kann in der Rofflaschlucht im dortigen Gasthaus übernachten.
Als der Gotthardtunnel 1882 eröffnete, verloren die Splügen- und die San-Bernardino-Route an Bedeutung, im Hinterrheingebiet setzte eine Auswanderungswelle ein. Auch Christian Melchior-Pitschen, Sohn des damaligen Gasthausbesitzers, wanderte in die USA aus. Sein Heimweh aber blieb.
Bei einem Besuch der Niagarafälle kam ihm die Idee, den Rofflawasserfall wie das US-Pendant als Touristenattraktion zu nutzen: In mühsamer Handarbeit sprengte er nach seiner Rückkehr eine Felsengalerie in die Rofflaschlucht, man kann gar den Wasserfall von hinten bewundern.
Fenster sorgen für optische Täuschung
In Alessandro Fabbris Brust schlagen zwei Herzen. Seit knapp 50 Jahren verkauft der 92-Jährige in Thusis in seinem kleinen Laden an der Neudorfstrasse italienische Spezialitäten. «Ich bin Italiener!», sagt er mit Inbrunst. Thusis liegt genau zwischen Zürich und Mailand. Nach einem verheerenden Brand 1845, als das gesamte Altdorf abbrannte, baute man die Neudorfstrasse, die sich heute als chausseeartige Hauptschlagader durch Thusis zieht. Mit charmanten Häusern rechts und links, die einen Sicherheitsabstand wahren und deren Fenster sich nach oben hin verkleinern – eine optische Täuschung, die dafür sorgt, dass die Gebäude grösser wirken, als sie sind.
Auch der englische TV-Koch Jamie Oliver lernte die Region lieben. 2016 besuchte er mit seinem Team diesen Teil von Graubünden und kehrte auch bei Andreetta Schwarz im Gasthaus Alte Post in Zillis ein. Von der Wirtin liess er sich in die Kunst des Capunsmachens einführen. Schliesslich heisst Mangold, das den Teig ummantelt, in England «Swiss Kraut», Schweizer Kraut. «Aber mein Geheimrezept habe ich ihm natürlich nicht verraten», sagt Schwarz schelmisch. Auf der Kommode des Schankraums läuft ein Film von Olivers Besuch in Dauerschleife.
Angelehnt an die Idee der mittelalterlichen Wegkapelle, sollen Herzog & de Meuron bei Andeer die erste Autobahnkirche der Schweiz bauen.
Die berühmteste Sehenswürdigkeit der Region ist die Kirche St. Martin, die nur wenige Gehminuten von der Alten Post entfernt mit einem besonderen Schatz aufwartet: Die hölzerne Bilderdecke aus dem 12. Jahrhundert erzählt auf 153 Tafeln hauptsächlich das Leben Jesu. Geht es nach dem Willen der Bevölkerung, wird eine weitere Kirche bald für Aufsehen sorgen: Angelehnt an die Idee der mittelalterlichen Wegkapelle, sollen die Stararchitekten Herzog & de Meuron an der A13 bei Andeer die erste Autobahnkirche der Schweiz bauen. Der Entwurf steht, eine Stiftung sucht nach Fördergeldern. Die christliche Kirche soll einen «Augenblick der Einkehr» für Durchreisende aller Glauben bieten. Das hätte sicher auch dem Reisenden Goethe gefallen.
In Zusammenarbeit von SonntagsZeitung und Viamala Tourismus
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