Verbot von ListenverbindungenWegen Listenflut im Wahlcouvert: EVP will Wahlsystem radikal verändern
Die Evangelischen Volkspartei will Listenverbindungen abschaffen und eine neue Auszählmethode auf nationaler Ebene einführen. Der Grund: Kleine Parteien seien heute stark benachteiligt.
Schon jetzt, vier Wochen vor dem Wahltag, brechen die Nationalratswahlen 2023 alle Rekorde. Nie zuvor traten so viele Kandidierende an, es sind 5909. Und nie zuvor gab es eine solche Flut von Hauptlisten, Frauenlisten, Seniorenlisten, Jugendlisten und anderen Unterlisten. Total 618 Wahllisten haben die Parteien schweizweit aufgestellt. Das sind doppelt so viele wie noch 2007, wie der Politologieprofessor Georg Lutz auf der Plattform «De facto» aufzeigt.
«Die Parteien überborden total, sie bringen unser Wahlsystem an den Anschlag», sagt Marc Jost, Berner Nationalrat der Evangelischen Volkspartei (EVP). Den Rekord im Rekordjahr hält Die Mitte, die allein im Thurgau mit elf Unterlisten antritt. Und im Kanton Bern gibt es so viele Listen, dass das Wahlmaterial nur noch knapp ins Wahlcouvert passt.
Marc Jost ist überzeugt, dass die Listenflut viele Wählende schlicht überfordert. Darum reicht er diese Woche im Nationalrat eine parlamentarische Initiative für eine grosse Wahlreform ein. Jost will Unterlisten abschaffen – obwohl seine Kantonalpartei zu den Ersten gehörte, die ganze Serien von Unterlisten lancierten, um so zusätzliche Stimmen zu gewinnen. Jost erklärt: «Das heutige Wahlsystem verdammt vor allem die kleinen Parteien dazu, viele Listen und Listenverbindungen zu haben.»
Listenverbindungen für alle verbieten
Die Ursache des Problems: Die Schweiz wählt ihre 200 Nationalratsmitglieder in 26 teilweise extrem kleinen Wahlkreisen, nämlich in den Kantonen. Wäre die Schweiz ein einziger Wahlkreis, bekäme jede Partei automatisch zwei Sitze pro Wählerprozent.
In der Realität sind die kleinen Parteien allerdings stark benachteiligt. In einem Kanton mit vier Sitzen braucht es beispielsweise für ein Nationalratsmandat einen Stimmenanteil von rund 20 Prozent. Selbst eine mittelgrosse Partei wie die GLP hat so keine Chance, je einen Sitz zu erobern.
Um die Benachteiligung der Kleinen abzumildern, erlaubt das Wahlsystem Listenverbindungen. Parteien, die ihre Wahllisten verbinden, werden beim Auszählen zunächst als eine Partei betrachtet und können so leichter Sitze gewinnen. Dieses System funktionierte jahrzehntelang einigermassen – doch dann begannen die Parteien, immer mehr Unterlisten zu lancieren. Die Strategie dahinter: Indem jede Kandidatin auf einer Unterliste auch noch ihre Grossmutter, ihren Götti und ihre Nachbarin an die Urne bringt, generiert sie zusätzliche Stimmen für die Partei.
Darum will Jost jetzt radikal aufräumen und Listenverbindungen für alle verbieten. Damit dies die kleinen Parteien nicht noch stärker benachteiligt, will er gleichzeitig die Auszählmethode ändern. Konkret fordert Jost die Einführung des «doppelten Pukelsheim», einer Auszählmethode, die vom deutschen Mathematiker Friedrich Pukelsheim erfunden wurde.
Der «doppelte Pukelsheim» funktioniert so: In einem ersten Schritt würde die Schweiz als einziger Wahlkreis mit 200 Sitzen betrachtet. Auf dieser Basis würde am Wahltag zuerst berechnet, welche Partei schweizweit wie viele Sitze bekommt. Erst in einem zweiten Schritt würden die Sitze auf die einzelnen Kantone verteilt.
Der «doppelte Pukelsheim» ist relativ kompliziert in der Berechnung. Aber die Politologin Martina Flick Witzig, die an der Universität Bern zu solchen Fragen forscht, sagt: «Das System wäre letztlich gerechter, weil es die Sitze entsprechend den nationalen Parteistärken auf die Parteien verteilt.» Heute könnten «die Wählenden kaum noch durchschauen, welcher Partei ihre Stimme am Ende zugutekommt».
Widerstand bei den grossen Parteien
Der «doppelte Pukelsheim» ist erprobt, rund zehn Kantone wenden ihn bei kantonalen Wahlen bereits an. Jost ist nicht der Erste, der diese Auszählmethode auch auf nationaler Ebene fordert – vor ihm taten das etwa der Schaffhauser Ständerat Thomas Minder und die Grünliberalen. Doch die grossen Parteien schmetterten solche Vorschläge bisher immer ab.
Den Demokratieaktivisten Claudio Kuster, der die Finessen des Wahlsystems wie nur wenige kennt, überrascht das nicht: «Die grossen Parteien würden mit dem ‹doppelten Pukelsheim› in der Tendenz Sitze verlieren.» Nach den Wahlen 2015 hat Kuster diesen Effekt präzis berechnet: Die SVP hätte damals acht und die SP sieben Sitze weniger erhalten. Dafür hätten EVP, GLP und EDU je zwei Sitze mehr gemacht.
Warum sollten die grossen Parteien also jetzt einem Systemwechsel zustimmen? «Weil es schlicht nicht mehr so weitergehen kann», sagt Jost. Er findet, vor allem die FDP müsste seinen Vorstoss unterstützen – zumal deren Präsident Thierry Burkart jüngst die Abschaffung von Listenverbindungen gefordert hat.
Doch Burkart lehnt Josts Vorstoss ab, wie er auf Anfrage sagt: «Appenzell ist nicht Genf, die Kantone ticken politisch extrem unterschiedlich.» Darum sei es unzulässig, die Schweiz als einen grossen Wahlkreis zu betrachten. Beim «doppelten Pukelsheim» könne es vorkommen, dass eine Nationalrätin nach Bern gehe, die in ihrem eigenen Kanton gar nie gewählt worden wäre. Burkart selbst will darum nur die Listenverbindungen abschaffen, ohne Wechsel bei der Auszählmethode – oder allenfalls ein anderes Wahlsystem. Er möchte daher den Bundesrat in einem eigenen Vorstoss beauftragen, Varianten auszuarbeiten.
Ein blosses Verbot der Listenverbindungen ohne neue Auszählmethode wäre aus Josts Sicht inakzeptabel. Es wäre «letztlich undemokratisch». Denn: «Das würde die FDP und die anderen grossen Parteien noch stärker bevorteilen als heute.»
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