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Verfolgt von einem Running Gag

Nur scheinbar vor Gericht: Gilles Senn in Binghamton vor dem Broome County Surrogate Court. (Bilder Kristian Kapp)
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Aber da sei die Sonne doch, ruft Gilles Senn, den Arm Richtung Fenster seiner Wohnung gestreckt. Er hat sich gerade wieder die «Binghamton»-Story anhören dürfen, sie ist mittlerweile zum Running Gag geworden, der ihn verfolgt.

Die Story gibts in verschiedenen Varianten, endet aber immer gleich: Binghamton, die Stadt irgendwo mitten in der Weite von Central New York ist ganz weit vorne im Rennen um die übelste City der AHL, der zweitstärksten Eishockeyliga Nordamerikas mit den Farmteams der grossen NHL-Clubs.

Binghamton, und die Sonne scheint: Gilles Senn beim Chenango River, der durch die Stadt fliesst.

In der Falle der Übersetzungsmaschinen

André Petersson, von 2011 bis 2014 Spieler in Binghamton, warnte damals in einem Telefongespräch in die Heimat den Schwedischen Journalisten vor der Anreise, da es einer der deprimierendsten Orte der USA sei.

Alles hier sei schlimm, die Sonne scheine nie, es regne immer – darum der Einwand Senns an diesem wunderbaren Herbsttag mit milden Temperaturen. Petersson machte die Rechnung ohne Google Translate und sich mit dem Interview nicht wirklich beliebt in «Bingo», er wurde später sogar wegtransferiert.

Zwei Goalies: Weil die Spielerbank in Binghamton zu klein ist, beobachtet Ersatzkeeper Evan Cormier den Starter Gilles Senn von der anderen Seite des Rinks aus.

Senn steht am Anfang seines Abenteuers in Binghamton, in Nordamerika generell. Die Devils sind das Farmteam des gleichnamigen NHL-Clubs aus New Jersey. Sei dieser Saison spielt der 23-jährige Walliser hier, acht Jahre hatte er zuvor in Davos gelebt und gespielt, die letzten drei Jahre, nach dem Abgang Leonardo Genonis, immer wieder auch als Nummer 1.

Und natürlich hörte er auch dort die Sprüche von Davoser Spielern mit AHL-Erfahrung, als er mitteilte, wo er ab dieser Saison spielen würde. «Sie sagten, ich würde es hier nicht lange aushalten», sagt Senn.

Im Draftjahr von Nico Hischier

Doch nun ist er da. Zwei Jahre nach dem NHL-Draft und der ersten Anfrage der New Jersey Devils, nach Nordamerika zu kommen. Als er 2017 in der 5. Runde gezogen worden war, machte das nicht einmal in der Schweiz Schlagzeilen, es war das Jahr eines anderen Wallisers: Während die Teufel Senn spät holten, drafteten sie Nico Hischier als Nummer 1.

Etwas Nostalgie: Die US-Nationalhymne gegen die Wilkes-Barre/Scranton Penguins wird von einem mehrstimmigen Seniorenchor gesungen …

Auch 2018 blieb Senn noch in der Schweiz, er wollte eine dritte Saison spielen in Davos als Teil des Goalie-Duos mit Joren van Pottelberghe, der mittlerweile mehr Freund denn Konkurrent geworden war. Es kam alles anders.

Es war die Saison, in der es in Davos zum Bruch kam, als Arno Del Curto nach 22 Jahren HCD mitten in der Saison abtrat, die Chemie zwischen Mannschaft und Trainer hatte sich längst verändert.

 … auch Gilles Senn lauscht den harmonischen Tönen.

Für Senn persönlich erfolgte ein einschneidender Moment schon vor der Saison, als der HC Davos überraschend den Schweden Anders Lindbäck als neuen Goalie verpflichtete. Das veränderte für Senn und van Pottelberghe alles.

Letzterer wurde nach Kloten ausgeliehen, Senn zum permanenten Ersatzgoalie degradiert, der auch dann nicht eingewechselt wurde, wenn das Team eine Klatsche kassierte – was hin und wieder vorkam. «Das war ein harter Schlag», sagt Senn. «Da ging beim Vertrauen zum Trainer etwas kaputt. Ich hatte vorher zu Arno stets hochgeschaut, ich hatte noch nie so einen Menschen wie ihn kennengelernt.»

Wiedersehen bei der Rückkehr: Gilles Senn begrüsst in Davos den damals mittlerweile den ZSC trainierenden Arno Del Curto. (Bild Gian Ehrenzeller/Keystone)

Im Nachhinein betrachtet, seien van Pottelberghe und er «selber Schuld» gewesen, dass es soweit kam, findet Senn. «Vorzeitig mitzuteilen, dass wir nach der Saison gehen würden, war kein guter Zug.» Wobei er auch anmerkt: «Das war nichts gegen den HC Davos. Ich beging ja keinen Vertragsbruch. Doch beim Club zeigte man sich dennoch verletzt.»

Einer der Gründe für die Verpflichtung Lindbäcks, die aus Davos kommuniziert wurden, war in der Tat dieser: «Unser Fokus liegt nicht auf der Ausbildung von Spielern von ausländischen Clubs», sagte damals HCD-Präsident Gaudenz Domenig.

Es war die erste nach aussen hörbare Dissonanzen aus dem Biotop Davos, die ihre Fortsetzung in einer katastrophalen Saison, einem Trainerrücktritt und dem erstmaligen Verpassen des Playoffs eine hektische Fortsetzung fand.

Wieder am Anfang, wieder zwei gleichwertige Goalies

Nun ist Senn in einer gänzlich anderen Welt gelandet, auch wenn einiges vertraut ist: Mit den Binghamton Devils hat er einen sportlich mässigen Saisonstart erlebt, im Tor wechselt er sich Spiel für Spiel mit dem zwei Jahre jüngeren Evan Cormier ab.

Doch sein persönlicher Fokus ist zunächst ein anderer, jener auf die eigene Performance – und das ist kein Egoismus, das ist normal in der Farmteamliga AHL, in der jeder Spieler von der NHL träumt.

Fokussiert in der eigenen Welt bei Spielunterbrüchen: Als vor Gilles Senn ein Faustkampf ausbricht, ist er der Einzige auf dem Eis, der dem wilden Treiben keine Beachtung schenkt.

Es geht für den jungen Schweizer Goalie darum, sich so schnell wie möglich an das Leben in der AHL zu gewöhnen und vor allem an das Eishockey auf dem kleineren Eisfeld und mit den oft deutlich höheren Plexiglasscheiben hinter den Toren.

Beides bedingt für Torhüter die noch grösseren Umstellungen als für Feldspieler. Und immerhin hat er letzten Mittwoch in seinem dritten Einsatz, im Heimspiel gegen die Wilkes-Barre/Scranton Penguins (4:1), seinen ersten Karrierensieg in Nordamerika feiern können. Bis ins Schlussdrittel hinein durfte er gar auf einen Shutout hoffen.

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Alt, aber nicht ohne eigenen Charme

Die Floyd L. Maines Veterans Memorial Arena, wie das Stadion Binghamtons heisst, bekam ihr Fett ebenfalls schon ab in diesen Storys. Manch ein ehemaliger Spieler nennt sie eine der schlimmsten Eishallen überhaupt. Die 1973 erbaute Arena hat nichts mit den modernen Mega-Stadien der NHL gemein, die Zeit scheint still zu stehen, hier drin hat Elvis Presley zwei der letzten Konzerte kurz vor seinem Tod gegeben.

Man kann es auch handgestrickt nennen, aber dennoch versprüht der Klotz durchaus seinen eigenen Charme. Sei es mit dem sehr simpel aufgebauten Fanshop oder dem in den Gängen mit Filzstift auf Wandtafeln nachgeführten AHL-Tabellen.

Oder auch dem so unkomplizierten Umgang zwischen Fans und Spielern nach der Partie: Weil keine wirkliche Abschrankung zwischen Garderoben und Sitzplätzen herrscht, können die Anhänger die Spieler via Materialwart für Selfies und Autogramme nach draussen bitten. Auch Senn, in diesem Spiel als «2. Star» des Abends ausgezeichnet, wird zum Posieren gebeten.

«Ich brauche Ruhe»

«Es hat auch etwas mit der Einstellung zu tun», sagt der Walliser. «Du darfst nicht mit dem Gedanken ‹Hier ist doch alles Mist! Was soll ich hier?› hierherkommen.» Er finde sich immer besser zurecht, er wohnt ausserhalb des Zentrums in einer sehr ruhigen Gegend alleine in einem Appartement – allerdings mit zehn Teamkollegen als Nachbarn im selben Block. «Ich brauche meine Ruhe», sagt Senn. «Und ansonsten klopfe ich bei einem der vielen Mitspieler an die Türe, wir sind eine gute Truppe.»

Was er sich erhofft von seiner ersten Saison fernab der Schweiz? Er sei ohne Erwartungen hierher gekommen, sagt Senn: «So vieles kann hier passieren, das du nicht beeinflussen kannst.» Ein Kommen und Gehen sei es zum Beispiel mit Spielern aus der NHL, aber auch der drittklassigen ECHL.

Er möchte seine Leistungen bringen und dem Coach keine andere Wahl lassen, als ihn einsetzen zu müssen, sagt Senn. «Und wenn mir das gelingt, dann werde ich irgendwann auch in der NHL einmal eine Chance erhalten.»

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Dieser Artikel entstand zum grossen Teil im Rahmen des Tamedia-Podcast «Eisbrecher». Der ganze Podcast mit Gilles Senn, in dem auch die beiden früheren Weggefährten Leonardo Genoni und Nico Hischier kurz mitwirken, kann hier gehört werden:

Eisbrecher – der Hockey-Podcast von Tamedia

Apropos Leonardo Genoni: Hier ist die Podcast-Episode mit dem EVZ-Goalie nachzuhören:

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Das Tamedia-Eishockeyteam blickt im «Eisbrecher» regelmässig in längeren Gesprächen mit Persönlichkeiten aus diesem Sport hinter die Kulissen. Dabei lösen wir uns von der Aktualität, besprechen mit den Gesprächspartnern die Themen, die sie wirklich beschäftigen. Der Podcast ist auch auf Spotify sowie auf Apple Podcast zu hören.