Unfälle am Weltcup in St. MoritzTränen, Schreie, Vorwürfe – ist es unvernünftig, was Skifahrerinnen tun?
Gleich fünf Athletinnen verletzen sich im Engadin schwer. Kritik wird laut, und eine Österreicherin wird zum 20. Mal in ihrem Leben operiert.
Eine Helferin stützt sie, eine Teamkollegin nimmt sie in den Arm. Aber so viel Trost, wie Inni Holm Wembstad am Donnerstagmittag braucht, kann niemand spenden.
Nach ihrem Sturz im zweiten Abfahrtstraining humpelt die Norwegerin durch den Neuschnee, das Knie ist kaputt und schmerzt, vor allem aber tut es in der Seele weh. Wieder ist eine Saison futsch, sie weint, schreit und ist nahe am Nervenzusammenbruch – wer die Szenerie mitverfolgt, weiss nicht, wie ihm geschieht. Ein Jahr hat Wembstad kein Rennen bestritten, letzten Dezember verunfallte sie ebenfalls im Engadin. Auch damals war das Kreuzband beschädigt.
Gleicher Tag, gleicher Ort, ähnliches Bild: Die Italienerin Karoline Pichler stürzt, sie erleidet einen Meniskusriss, der Operationstermin steht bereits. Auch sie weint beim Abtransport, wen mag es erstaunen. Zu Beginn ihrer Karriere verletzte sie sich innert weniger als drei Jahren viermal am Knie, im Januar riss sie sich das Kreuzband an, bestritt aber zur Verblüffung vieler weiterhin Rennen. Damit ist vorerst Schluss, ihren letzten Instagram-Post versah sie mit einem gebrochenen Herzen.
Auf den traurigen Donnerstag folgt der Black Friday. Elena Curtoni fliegt spektakulär ab, Diagnose: komplizierter Bruch des Kreuzbeins, mehrere Wochen Nichtstun. Zu viel des Schlechten? Mitnichten! Schon beim Einfahren fürs Rennen stürzt Nina Ortlieb fürchterlich, die Vize-Weltmeisterin in der Abfahrt zieht sich einen Schien- und Wadenbeinbruch zu. Am Samstag kommt der Rettungsschlitten erneut zum Einsatz, mit Elisabeth Reisinger erwischt es wieder eine Österreicherin. Auch bei ihr: Kreuzbandriss, Saisonende.
Doch zurück zu Ortlieb: Um ihre Verletzungsgeschichte detailliert aufzuschreiben, braucht es mehrere A4-Seiten. Die Operation am Freitag ist ihre 20. – und das mit 27 Jahren! Die Knie waren kaputt, das Becken, das Schambein, die Oberarme, der Mittelhandknochen, das Sprunggelenk, die Schulter, die Rippen, die Nase. Und: Die Liste ist nicht komplett.
«Mit Vernunft hat das nichts zu tun»
Am Freitag ist die Sicht schlecht, «da steigt die Gefahr von Stürzen erheblich», sagt die Österreicherin Nicole Schmidhofer, einst Weltmeisterin im Super-G. Nicht nur sie moniert, dass zu wenig blaue Farbe als Orientierungshilfe auf der Piste aufgetragen wird, vor allem sei sie zu hell und der Kontrast suboptimal gewesen. Der norwegische Trainer Atle Skaardal kritisiert derweil, dass sein Schützling Wembstad nicht gezwungen wurde, in den Rettungsschlitten zu steigen – sie fuhr mit beschädigten Knie noch ins Ziel.
Wie auch immer: Die österreichischen Trainer sagen bereits, Ortlieb werde auch dieses Mal stark zurückkehren. Die Worte irritieren. Und Fragen drängen sich auf: Wann ist es genug? Ist es unvernünftig, was Skifahrerinnen tun?
Nicole Schmidhofer muss es wissen. Sie donnerte 2020 mit 116 km/h durch einen Fangzaun, das Knie musste viermal operiert werden, im Knochen klaffte ein Loch so gross wie ein Golfball. «Mit Vernunft hat das nichts zu tun», sagt die 34-Jährige. «Du denkst nur ans Comeback, blendest alles andere aus.» Einige Monate nach ihrer Rückkehr sei das Aha-Erlebnis gekommen. «Ich dachte: Hey, du hättest den Fuss verlieren können. Lass es sein.» Sie kenne kaum eine Skifahrerin, die nie verletzt gewesen sei, «gebrochene Finger oder Prellungen zählen ja nicht».
Ganz loslassen kann sie dann aber doch nicht: Schmidhofer saust nun als Kamerafahrerin die Pisten runter.
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