Träger des «Schweizer Nobelpreises»Und plötzlich rief ihn der Bundesrat an
Ruedi Aebersold ist ein Pionier der Protein-Forschung. Auf einer Ferienreise erfuhr der emeritierte ETH-Professor, dass er die wichtigste Auszeichnung für Schweizer Forscher gewonnen hat.
Ruedi Aebersold tourte gerade mit seiner Frau in einem Camper durch Norddeutschland, als das Telefon klingelte und sich ein gewisser Guy Parmelin meldete. Er wolle ihm mitteilen, sagte der Bundesrat, dass er, Aebersold, den diesjährigen Schweizer Wissenschaftspreis Marcel Benoist gewonnen habe.
«Das war schon eigenartig, wenn man mit einem Bundesrat am Telefon spricht», erinnert sich Aebersold bei unserem Treffen in seinem Büro im obersten Stock eines der unzähligen Gebäude auf dem Campus Hönggerberg der ETH Zürich. «Aber es hat mich extrem gefreut.»
Mit 250’000 Franken dotiert
Vergangene Woche hätte nun die offizielle Verleihung der beiden Schweizer Wissenschaftspreise Benoist und Latsis stattfinden sollen. Hätte, denn die Veranstaltung, bei der Wissenschaftsminister Parmelin die Preise überreichen sollte, musste wegen Corona abgesagt respektive auf 2021 verschoben werden. Dies ist nicht nur für Aebersold und die Latsis-Preisträgerin Maryna Viasovska von der ETH Lausanne schade, sondern auch für den oft als «Schweizer Nobelpreis» gehandelten Benoist-Preis selber. Denn die Benoist-Stiftung, die den mit 250’000 Franken dotierten Preis vergibt, feiert ausgerechnet dieses Jahr ihren 100. Geburtstag.
Aebersold selber nimmt die Verschiebung gelassen. Es sei zwar bedauerlich, aber angesichts der Situation die richtige Entscheidung. Sowieso, Gelassenheit, aber auch eine gewisse Beharrlichkeit zeichnen den 66-jährigen Pionier der Proteomik-Forschung aus. Das ist jene wissenschaftliche Fachrichtung, die sich mit der Gesamtheit aller Proteine in einer Zelle oder in einem Organismus befasst.
Wegen Aebersold wissen wir heute viel genauer Bescheid, wie die Proteine in unseren Zellen funktionieren und zusammenarbeiten.
Schon für seine Doktorarbeit, die er Anfang der 80er-Jahre am Biozentrum der Universität Basel und der damaligen Ciba-Geigy machte, beschäftigte sich Aebersold mit Proteinen. Und diese Moleküle, die in den Zellen «weitgehend die Funktionen ausüben», wie es der gebürtige Berner ausdrückt, haben ihn seither nicht mehr losgelassen. «Ich war immer schon daran interessiert, wie Sachen funktionieren.»
Aebersold ist es denn auch zu verdanken, dass wir heute viel genauer Bescheid wissen, wie die Proteine in unseren Zellen funktionieren und wie sie zusammenarbeiten. Er hat die Felder der Proteomik und der Systembiologie – damit ist die gesamtheitliche Sicht darauf gemeint, wie eine Zelle oder ein Organismus funktioniert – nicht nur mitbegründet, sondern in den letzten vierzig Jahren auch mitgeprägt wie kaum ein anderer. Dafür hat er nun, am Ende seiner akademischen Karriere – Aebersold wurde im Januar 2020 pensioniert –, den Benoist-Preis erhalten. «Das ist eine sehr schöne Anerkennung für meine Karriere und die Leistungen meiner Gruppe», sagt er.
Der Beginn seiner Laufbahn fiel in die Zeit, als dank neuen Werkzeugen die DNA-Forschung so richtig loslegte. Die Verlockung wäre also gross gewesen, sich in dieses neue Feld zu stürzen, zumal ein Pionier der rekombinanten Genforschung, der spätere Nobelpreisträger Werner Arber, eine wichtige Rolle dabei spielte, dass Aebersold in Basel studierte und nicht etwa in Bern – was für einen in Steffisburg bei Thun aufgewachsenen «Giel» naheliegend gewesen wäre.
Denn als Aebersold, er hatte gerade die Matura im Sack, sich nach möglichen Studiengängen in Biochemie oder Molekularbiologie erkundigte, lief er ohne Voranmeldung ins Biozentrum und wurde dort zu seiner eigenen Überraschung zu Arber vorgelassen. «Er hat sich Zeit genommen und mir mit grosser Begeisterung seine Arbeit erklärt», erzählt Aebersold. «Danach war mir klar: Da will ich hin.»
Doch eben, Aebersold hielt der Versuchung stand, in die trendige Genforschung einzusteigen, und wählte das damals weniger populäre und vor allem viel mühsamere Feld der Proteinforschung. «Im Nachhinein war es für mich ein Glücksfall», sagt er. Denn weil das Forschungsgebiet nicht so populär war, gab es auch weniger Konkurrenz, und zudem gab es viel Neuland zu entdecken.
Nach der Dissertation zog er mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern als Postdoc nach Los Angeles, ans California Institute of Technology, kurz Caltech. Dort arbeitete er Mitte der 1980er-Jahre im Labor des DNA-Pioniers Leroy Hood, dessen Ziel es war, möglichst viele Abläufe im Labor zu automatisieren. «Lee war visionär», sagt Aebersold, «das war eine tolle Gelegenheit.»
Seine Erkenntnisse fliessen in die Klinik
Eine weitere Gelegenheit erhielt Aebersold 1989, als er eine Professur an der University of British Columbia in Vancouver angeboten bekam. Er entschied sich für den Wechsel in die kanadische Westküstenstadt, auch wegen der hohen Lebensqualität für eine junge Familie, wie er sagt – mittlerweile waren sie zu fünft. Dort stellte er auch die Weichen für die künftige Forschung. Er kaufte für sein Labor ein Massenspektrometer, ein teures Gerät, mit dem er Proteine analysieren konnte. Dieses Werkzeug, so zeigte sich später, würde die ganze Proteomik-Forschung in eine neue Ära katapultieren.
Aebersolds Labor setzte voll auf diese Technik und entwickelte sie in den kommenden Jahren weiter. Eine Innovation aus seiner Arbeitsgruppe erlaubte es zum Beispiel, nicht nur die verschiedenen Proteine in einer Zelle zu inventarisieren, sondern sie auch zu quantifizieren, also zu zählen. Eine solche Zählung ergab zum Beispiel, dass jede Zelle rund acht Milliarden Proteine beherbergt, im Schnitt 10’000 bis 12’000 verschiedene, in unterschiedlichen Mengen.
Später entwickelten Forscher in seinem Labor Methoden, mit denen man auch analysieren konnte, welche Proteine mit welchen interagieren, welche Netzwerke und Komplexe sie dabei bilden und wie sich die Proteinkomplexe im Falle einer Krankheit, etwa bei Krebs, verändern können. Solche Erkenntnisse beginnen nun langsam von der reinen Grundlagenforschung in die Klinik zu fliessen.
Viele der Entdeckungen machte Aebersold nicht mehr an der amerikanischen Westküste, wo er insgesamt zwanzig Jahre lebte, sondern an der ETH Zürich. Nach einem Abstecher an die University of Washington in Seattle und einem weiteren in ein privates, von Lee Hood, Alan Aderem und ihm gegründetes Forschungsinstitut, ebenfalls in Seattle, lockte ihn 2004 ein Angebot zurück in die Schweiz: Er konnte an der ETH das neue Institut für Molekulare Systembiologie aufbauen, später auch die viel beachtete Schweizer Forschungsinitiative SystemsX.
Sein aktuelles Programm, das Tumor Profiling, führt Proteomik, Genomik und Mikroskopie so zusammen, dass Onkologen die besten Therapien für ihre Patienten eruieren können.
Der Entscheid, in die Schweiz zurückzukehren, war aber auch einer der schwierigsten im Leben von Ruedi Aebersold und seiner Frau. Denn ihre drei Kinder, mittlerweile waren alle erwachsen, wollten nicht mitkommen. Die Aebersolds entschieden sich trotzdem für den Wechsel, kauften sich dafür ein Haus bei Seattle, das der weit verstreuten Familie – die Kinder leben alle in den USA, aber «jeweils drei bis vier Flugstunden voneinander entfernt» – als Familienbasis dienen sollte. Das funktionierte gut, bis Corona kam. Seither muss Aebersold mit seinen Kindern und Enkeln via Zoom kommunizieren.
Viel Zeit zum Ausspannen in den USA hätte er momentan sowieso nicht. Aebersold ist noch stark involviert in den Abschluss eines Forschungsprogramms namens Tumor Profiling, bei dem es darum geht, Methoden aus der Proteomik, der Genomik und der Mikroskopie so zusammenzuführen, dass diese den Onkologen helfen, die besten Therapien für ihre Patienten zu eruieren.
Daneben findet der gmögige Berner aber auch immer wieder Gelegenheiten, seinen Hobbys zu frönen, etwa dem Mountainbiken, dem Velofahren oder dem Segeln auf dem Thunersee. Und vielleicht erlaubt die Corona-Situation sogar bald auch wieder eine Camper-Tour mit seiner Frau irgendwo durch Europa. Wer weiss, wer dann anrufen wird.
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