Hightech an der WMUnd dann wird der Linienrichter vor aller Welt blossgestellt
In Katar steht eine neue Abseitstechnologie im Einsatz. Wie sie funktioniert, weshalb sie zu absurd anmutenden Entscheiden führt und dennoch die Akzeptanz des VAR erhöht.
Als die Schweizer gegen Brasilien das erste Mal in Rücklage sind, eilt der Videoschiedsrichter zu Hilfe. Vor dem vermeintlichen 1:0 von Vinicius Junior stand Richarlison meterweit im Offside. Und weil dieser aktiv ins Spielgeschehen eingriff, gab es nur einen korrekten Entscheid: Der VAR annullierte das Tor. Vielleicht blickte der Linienrichter kurz unters Stadiondach, als das Ausmass seines Malheurs später 3-D-animiert auf den Videoscreens eingeblendet wurde, und empfand dabei ein klein wenig Scham.
Die Szene ist ein Vorzeigebeispiel für den Nutzen des VAR. Wie auch Stunden zuvor jene beim 2:3-Anschlusstreffer Kameruns gegen Serbien. Ohne Videoschiedsrichter wäre die Abseitsentscheidung stehen geblieben. Die Afrikaner hätten wohl nicht mehr ins Spiel zurückgefunden, so aber kamen sie zum 3:3.
Womöglich wird der VAR künftig breitere Akzeptanz erfahren. Auch, weil er an dieser WM auf ein Tool zurückgreifen kann, das sich bald in allen wichtigen Wettbewerben durchsetzen dürfte: die halbautomatische Abseitstechnologie.
Ronaldo jammert vergebens
Das System funktioniert so: 12 Kameras unter dem Stadiondach erfassen während der WM-Partien den Ball sowie 29 Datenpunkte aller Spieler 50-mal pro Sekunde und berechnen deren exakte Position auf dem Rasen. Die Datenpunkte umfassen alle Glieder und Extremitäten der Fussballer, die für Abseitsentscheidungen massgebend sind.
Revolutionär ist auch der WM-Ball «al-Rihla». Dieser ist mit einem 14 Gramm schweren Sensor versehen, der 500-mal pro Sekunde Daten in den VAR-Raum liefert. Damit lässt sich der zentrale Entscheidungsfaktor beim Offside, der Moment der Ballabgabe, exakt feststellen.
Aber nicht nur das: Am Montag reklamierte Cristiano Ronaldo das 1:0 Portugals für sich, er hätte damit den grossen Eusebio als Portugals WM-Rekordtorschützen abgelöst. Der portugiesische Fussballverband wollte Einspruch erheben, damit die Fifa den Treffer doch noch Ronaldo zuspricht. Hersteller Adidas kann aber dank des im Ball implementierten Sensors die Richtigkeit des Entscheides beweisen. Die Daten ergeben, dass der 37-jährige Weltstar den Ball nicht mit dem Kopf berührte.
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Millimeterentscheidungen, die absurd anmuten
Ist der Entscheid gefällt, werden die vom System erfassten Datenpunkte zur 3-D-Animation aufbereitet, an die Fernsehstationen übermittelt und auf den Videoscreens im Stadion eingeblendet. Nur dauert es teilweise noch etliche Minuten, bis diese Bilder den Zuschauenden geliefert werden. Eine Beschleunigung des Prozesses – analog des Einsatzes des Hawk Eye im Tennis – würde die Transparenz weiter erhöhen.
Das neue System kann zu Millimeterentscheidungen führen, die teilweise absurd anmuten. Etwa, als das vermeintliche 2:0 von Argentiniens Stürmer Lautaro Martinez gegen Saudiarabien annulliert wurde, weil er sich mit seiner Schulter ganz knapp im Offside befand. Aber Abseits ist Abseits. So sind nun mal die Regeln.
Am Ende entscheiden immer noch Menschen
Wie es der Name sagt: Das System ist halbautomatisch. Zwar schickt es sofort eine Abseitswarnung an den VAR, wenn der Ball von einem Angreifer berührt wird, der zum Zeitpunkt der Ballabgabe im Offside steht. Aber es sind nach wie vor die Videoschiedsrichter, die den Input überprüfen, bevor sie den Unparteiischen informieren.
Der VAR checkt, ob tatsächlich ein strafbares Abseits vorlag. Weil die Regel komplexer ist als angenommen. Beispielsweise kann die Frage nicht immer eindeutig beantwortet werden, ob ein Angreifer im Offside die Möglichkeit eines gegnerischen Spielers, den Ball zu klären, beeinträchtigt hat. Dies liegt im Ermessen des Videoschiedsrichters. Wie beim aberkannten Tor von Vinicius Junior. Da musste der VAR entscheiden, ob Richarlison aktiv eingriff. Die Technologie ist noch nicht derart ausgereift.
Schnellere Entscheidungen – und doch dauern Partien länger
Es ist wohl allen, welche die WM verfolgen, aufgefallen: Die Partien dauern länger. Der 6:2-Sieg von England gegen den Iran etwa dehnte sich auf geschlagene 117 (!) Minuten aus.
Das liegt aber nicht am neuen Offsidesystem. Fifa-Schiedsrichterchef Pierluigi Collina gab vor dem Turnier die Devise aus, dass die Abseitsüberprüfung dank der neuen Technologie im Schnitt nur noch 25 Sekunden dauern soll statt der bisherigen 70.
Zwar liegen noch keine detaillierten Angaben vor, aber tatsächlich besteht der Eindruck, dass die Checks kürzer dauern. Zumindest gibt es keine Szenen mehr, in denen der Schiedsrichter am Spielfeldrand steht und sich tausendmal die Wiederholung eines möglichen Offsides anschaut, bis auch die Letzte im Stadion die Geduld verliert.
Länger dauern die Partien aus einem anderen Grund. Laut einer Untersuchung des in Neuenburg ansässigen internationalen Zentrums für Sportstudien (CIES) war in der Champions League der Ball während nur 60 Prozent der Zeit im Spiel – aufgrund etwa von Torjubeln, sonstigen Unterbrechungen und Verzögerungen bei Einwürfen.
Die Schiedsrichter sind bei der WM angewiesen, die während einer Partie verlorene Spielzeit genauer nachzuverfolgen und dann zu kompensieren. So kommen die längeren Nachspielzeiten zustande. Auch diese Neuerung dürfte sich etablieren, erste Ligen wie die italienische Serie A haben schon angekündigt, dies auch so handhaben zu wollen.
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