Interview zum Wiederaufbau der Ukraine«Der Krieg hat gezeigt, dass Atomkraftwerke ein ziemliches Klumpenrisiko sind»
Die Energieinfrastruktur der Ukraine ist grösstenteils zerstört. Das Land brauche jetzt Windturbinen und Solaranlagen, sagt ETH-Forscher Tobias Schmidt – auch um korrupte Oligarchen zurückzudrängen.

Seit Beginn des Angriffskriegs hat Russland nicht nur militärische Ziele, sondern auch die Energieinfrastruktur der Ukraine massiv ins Visier genommen. Vor dem Krieg bestand diese in etwa zur Hälfte aus fossilen Kraftwerken, 23 Prozent entfielen auf Kernkraftwerke und 11 Prozent auf die Wasserkraft. Solarenergie und Windkraft stellten zusammen rund 16 Prozent der elektrischen Energie. Welches Energiesystem würde sich am besten für die Zeit nach dem Krieg eignen?
Tobias Schmidt leitet die Gruppe Energie- und Technologiepolitik der ETH Zürich und ist Direktor des Instituts für Wissenschaft, Technologie und Politik. Ein von ihm und weiteren Forschenden publizierter Kommentar im Fachmagazin «Joule» liest sich als Plädoyer für den Aufbau eines nachhaltigen Energiesystems in einem Land, das vor dem Krieg vorwiegend auf fossile Kraftwerke und Atomenergie gesetzt hat und das von Korruption und Oligarchentum geprägt ist.
Herr Schmidt, aktuell wird viel über einen Waffenstillstand in der Ukraine verhandelt. Der Ausgang der Gespräche ist aber ungewiss. Ist es nicht verfrüht, sich Gedanken über das künftige Energiesystem der Ukraine zu machen?
Überhaupt nicht. Ich kann natürlich nicht sagen, ob das Thema Frieden schon in wenigen Wochen akut wird oder ob der Krieg noch drei Jahre weitergeht. Aber wenn es um die Energieinfrastruktur geht, hat man es oft mit recht langen Zeiträumen zu tun. Wenn man zum Beispiel heute einen Transformator bestellt, dann bekommt man ihn vielleicht in zwei Jahren geliefert. Daher haben wir unser Forschungsprojekt auch schon vor mehr als zwei Jahren begonnen.
In welchem Zustand befindet sich das ukrainische Energiesystem aktuell, nach mehr als drei Jahren Krieg?
Mehr als 90 Prozent der fossilen Kraftwerke und circa 40 Prozent der Wasserkraftwerke sind zerstört. Der Grad der Zerstörung ist in den umkämpften Gebieten natürlich grösser als im Rest des Landes. Im Donbass zum Beispiel ist die gesamte Energieinfrastruktur schwer beschädigt.
In Ihrer im Fachmagazin «Joule» erschienenen Studie legen Sie nahe, dass ein dezentrales, regeneratives Energiesystem für die Ukraine künftig am besten wäre. Warum?
Weil solch ein Energiesystem viel robuster ist. Die Ukraine hat zwar gelernt, ein teilweise zerstörtes fossiles Kraftwerk relativ schnell wieder hochzufahren, zumindest mit reduzierter Leistung. Dennoch ist der Schaden am Energiesystem auf einen Schlag immens, wenn ein fossiles Grosskraftwerk durch Raketenbeschuss wegbricht. Aus Sicht der Ukraine ergibt es daher Sinn, ein möglichst widerstandsfähiges, resilientes Energiesystem aufzubauen – vor allem für den Fall, dass der Konflikt doch wieder aufflammt.

Windturbinen und Solaranlagen sind robuster?
Auf jeden Fall. Selbst wenn ein Solarkraftwerk von Raketen getroffen wird, kann man die beschädigten Panels überbrücken und vergleichsweise schnell durch neue austauschen. Vereinzelt stehende Windräder sind kein effizientes Ziel. Daher ist eine dezentrale Energieinfrastruktur für potenzielle künftige Angreifer schwieriger zu zerstören.
Aber es bräuchte sehr viele Windräder und Solaranlagen, um die gleiche Menge an Strom zu generieren wie ein grosses Kohle- oder Atomkraftwerk.
Ja, aber die Menge ist kein Problem. Die Regenerativen sind heute massenproduzierte Standardware. Weltweit können wir pro Tag Solaranlagen mit anderthalb Gigawatt Leistung installieren. Das entspricht grob einem neuen Atomkraftwerk pro Tag, wobei ein Atomkraftwerk 24 Stunden am Tag Strom liefert. Dennoch ginge der Aufbau des Energiesystems mit regenerativen Energien schneller als mit Grosskraftwerken. Und die Geschwindigkeit ist ein wichtiger Faktor, damit die Wirtschaft der Ukraine nach dem Krieg möglichst schnell wieder hochgefahren werden kann.
Solarzellen werden aber zu circa 90 Prozent in China hergestellt, was auch Probleme mit sich bringen kann.
Das stimmt. Es ist durchaus möglich, dass der Handel mit China unter Druck gerät, etwa wenn der Konflikt mit Taiwan eskaliert. Aber auch bei anderen Technologien können Konflikte zu Lieferschwierigkeiten führen. Zum Beispiel hat die Ukraine nur wenige Gasvorkommen. Auch hier wäre sie weitestgehend von Gasimporten abhängig. Und das hat sich schon in der Vergangenheit als konfliktträchtig herausgestellt. Insgesamt wäre die Ukraine mit den Regenerativen weniger abhängig vom nicht westeuropäischen Ausland als mit fossilen Energien oder Atomkraft.
Die Ukraine könnte auch auf heimische Kohle setzen.
Das wäre nicht nur sehr schlecht für den Klimaschutz, sondern auch für die Luftqualität. Vor dem Krieg hatte die Ukraine wegen der vielen Kohle eines der dreckigsten Energiesysteme Europas. Bei der Verbrennung von Kohle werden Feinstäube und Schwefeldioxid freigesetzt. Diese Emissionen lassen sich durch Filter zwar reduzieren, aber nicht eliminieren und sind daher unmittelbar gesundheitsschädlich.
Gibt es in der Ukraine genug Potenzial für Sonne und Wind?
Generell ist das Potenzial sehr hoch. Wir schätzen es in unserer Studie auf 180 Gigawatt für Wind und 39 Gigawatt für Solar. Das ist, wie auch die Internationale Energieagentur in einer Studie zeigt, zusammen ausreichend, um den Elektrizitätsverbrauch des Vorkriegsniveaus grösstenteils zu decken, trotz niedrigerer Energieausbeute pro installiertem Gigawatt. Ergänzend bräuchte es Batteriespeicher und kleine, günstige Gaskraftwerke als Back-up für Phasen ohne viel Sonne und Wind. Von Vorteil wäre auch eine Anbindung an das europäische Stromnetz. So liessen sich die Schwankungen bei den Regenerativen besser ausgleichen.
Das grösste Potenzial für die Regenerativen findet sich aber ausgerechnet im Süden und im Südosten des Landes, also in den umkämpften Gebieten.
Ja. Die Regenerativen funktionieren aber auch in den restlichen Landesteilen. Selbst in Kiew ist die Sonneneinstrahlung vergleichbar mit der in der Nordschweiz. Wird die Energieinfrastruktur in den westlichen Landesteilen aufgebaut, müsste dort für den gleichen Energieoutput natürlich mehr installiert werden als in den südlichen und südöstlichen Landesteilen. Das würde die Energie etwas teurer machen.
Dafür gelten die westlichen Landesteile als sicherer.
Genau. Es gibt also einen Trade-off zwischen Sicherheit und Energiepreis. Wo es künftig am sinnvollsten sein wird, Solaranlagen und Windparks aufzustellen, hängt stark davon ab, was für Sicherheitsgarantien es nach einem Waffenstillstand für die Ukraine geben wird. Wenn ich ein ukrainischer Entscheidungsträger wäre, würde ich in Anbetracht der gegenwärtigen geopolitischen Lage wahrscheinlich die Sicherheit des Energiesystems höher gewichten als die Energiekosten.
Gibt es Gründe für die Ukraine, weiterhin auf Kernenergie zu setzen?
Aus meiner Sicht würde das nur Sinn ergeben, wenn die Ukraine aus dem Atomwaffensperrvertrag aussteigen und die Entwicklung eigener Atomwaffen anstreben würde. Ansonsten hat der Krieg ja gezeigt, dass Atomkraftwerke ein ziemliches Klumpenrisiko sind: Seit Beginn des Kriegs macht man sich zum Beispiel Sorgen um die Sicherheit des Atomkraftwerks Saporischschja.
Welches sind die grössten Herausforderungen, um in der Ukraine ein regeneratives Energiesystem aufzubauen?
Die Veränderung der politischen Struktur. Die ukrainische Wirtschaft und damit auch das Energiesystem sind geprägt von Korruption und Oligarchentum. Besonders die grossen Infrastrukturprojekte, bei denen es um Milliarden geht, sind dafür anfällig. Die Ukraine muss aufpassen, dass sich das nicht auf das neue Energiesystem überträgt. Hier hat das dezentrale regenerative System allerdings Vorteile, da pro Projekt viel kleinere Summen im Spiel sind. So besteht die Chance, dass die Ukraine mit dem Umbau auf regenerative Energien auch Korruption und Oligarchentum zurückdrängen kann.
Was kostet der Neubau des Energiesystems der Ukraine?
Der Bericht «Empowering Ukraine Through a Decentralised Electricity System» der Internationalen Energieagentur beziffert den Investitionsbedarf für den Wiederaufbau mit primär regenerativen Energien mit 15,5 bis 23 Milliarden US-Dollar. Ein System allein mit Gaskraftwerken bräuchte mit 13,4 Milliarden US-Dollar weniger Investitionen, hätte aber die erwähnten Nachteile und würde wegen der wesentlich höheren Betriebskosten zu höheren Stromgestehungskosten führen. Beide Beträge sind sicher viel für die Ukraine. Aber es ist klar, dass es für den Wiederaufbau der Infrastruktur einer Partnerschaft zwischen Europa und der Ukraine bedarf.
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