Als Lügner entlarvt«Teflon-Mark» vor dem Fall
Der niederländische Premier Rutte steckt knietief im Morast eines ungewöhnlichen, fast irrwitzigen Skandals. Dabei geht es um Lügen, geheime Absprachen und Kabale bei der Bildung der neuen Regierung.
Diesmal ist es ernst für Mark Rutte, diesmal kommt er wahrscheinlich nicht davon. «Teflon-Mark» nennen sie den Politiker, der die Niederlande seit zehn Jahren regiert und vor zwei Wochen zum dritten Mal wiedergewählt wurde. Weil er immer so geschickt darin war, Affären und politische Fehler an sich abperlen zu lassen, anderen die Schuld zu geben – und einfach weiterzumachen. Doch diesmal wird etwas hängen bleiben.
Rutte steckt knietief im Morast eines für niederländische Verhältnisse ungewöhnlichen, fast irrwitzigen Skandals, bei dem es um geheime Absprachen und Kabale bei der Bildung der neuen Regierung geht und um den Versuch, einen unbequemen Politiker unsanft aus dem Weg zu räumen. Der Vorwurf: Rutte habe dabei gelogen, und zwar bewusst. Die Sache treibt das Land seit Tagen um und kulminierte am Donnerstag in einer schon jetzt historischen Parlamentssitzung, in der Rutte regelrecht an den Marterpfahl gestellt wurde. Am Ende hatte er, wie Oppositionsführer Geert Wilders bilanzierte, «zwölf Messer im Rücken». Die Wahrscheinlichkeit, dass Rutte zurücktritt oder dazu gezwungen wird, ist hoch. Nicht nur, weil der Premier schwarz auf weiss als Lügner entlarvt wurde. Sondern weil er, was schlimmer ist, die Lüge nicht zugibt, sie auch gar nicht Lüge nennt, sondern «Unwahrheit», und sich stattdessen in den klassischen Ausweg flüchtet: die Erinnerungslücke.
Wie das manchmal so ist, steht am Anfang ein dummer Zufall. Dieser Zufall ist ein Pressefotograf, der vor einer Woche eine Politikerin beim Verlassen eines Gebäudes ablichtet. Es ist Innenministerin Kajsa Ollongren von der linksliberalen Partei D66. Zusammen mit einer Kollegin soll sie als «Sondiererin» Gespräche mit den Fraktionschefs der wichtigsten Parteien führen, um die Aussichten für eine neue Regierungskoalition auszuloten. Ollongren hat soeben erfahren, dass sie sich mit dem Coronavirus angesteckt hat. Hals über Kopf verlässt sie das Parlamentsgebäude, im Arm einen Stapel Papiere. Auf einem davon sind Notizen, die auf dem Foto später zu sehen sind. Es ist eine Art Sprechzettel, eine Einschätzung der Lage nach den Gesprächen: Wer will was, wer ist zu welchem Kompromiss bereit, solche Sachen. Die Notizen sind ehrlich und persönlich. Und deshalb definitiv nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.
Wirbel um den Abgeordneten Pieter Omtzigt
Eine Zeile vor allem ist es, die Schockwellen durch Den Haag sendet: «positie Omtzigt, functie elders». Übersetzt heisst das ungefähr, dass man für den Kollegen Omtzigt eine «andere Funktion» finden müsse. Oder, deutlicher, dass Omtzigt irgendwie «entsorgt» oder «weggelobt» werden muss. Der Christdemokrat Pieter Omtzigt ist einer der interessantesten und gleichzeitig umstrittensten Politiker des Landes, einer, der die Wahrheit liebt, auch mal Regeln bricht, ein Draufgänger, ein Unbequemer. Omtzigt ist da, wo es weh tut: Im Europarat hat er versucht, die Bestechungsversuche der aserbaidschanischen Regierung aufzuklären, für die mutmasslich vor allem Christdemokraten empfänglich waren. Er hat die dubiosen Hintergründe des Mordes an der maltesischen Bloggerin Daphne Caruana Galizia untersucht. Und er hat als Abgeordneter entscheidend dazu beigetragen, dass der Skandal um Kinderbetreuungsgeld, das der niederländische Staat zu Unrecht und ohne Gnade von Tausenden Familien zurückforderte, ans Licht kam und letztlich im Januar zum kollektiven Rücktritt der Regierung Rutte führte.
Das alles hat Omtzigt zu einem der beliebtesten Politiker des Landes gemacht, abzulesen etwa in der Zahl von mehr als 300'000 persönlichen Stimmen, die er bei der jüngsten Wahl einheimste. Im Parlament aber und in der eigenen Partei ist er umstritten: weil er kein Teamplayer ist, sondern politischer Alleinunterhalter, einer, bei dem man nie sicher sein kann, ob er sich an die Parteilinie hält. Er ist wie die sprichwörtliche «lose Kanone», die über das Deck schlingert und das Schiff beschädigt. Wie ein Damokles-Schwert, das über Rutte hängt, der weitere Aufklärung in der Kindergeld-Affäre gewärtigen muss – aber auch über dem christdemokratischen Spitzenmann Wopke Hoekstra, der Omtzigt als scharfen innerparteilichen Konkurrenten fürchtet.
Es gibt also ein verbreitetes Interesse, den Abgeordneten Omtzigt kaltzustellen, ein Motiv. Die beiden Sondiererinnen mussten nach Bekanntwerden der Notizen sofort zurücktreten. Rutte jedoch behauptete in zwei TV-Interviews, es sei bei den Gesprächen nie um Omtzigt gegangen, sein Name sei überhaupt nicht gefallen. Noch dazu empfahl er, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Sie sei nun mal vertraulich und geheim, deshalb werde sich auch niemand dazu äussern, das sei eben so, das müsse man akzeptieren.
Ruttes Chuzpe versetzte die Mitglieder des Unterhauses in Rage. Die Wutwelle wuchs, bis sich der Rechtsliberale dem überwältigenden Wunsch nach einer Parlamentsdebatte über den Vorfall beugen musste. Es war gleichzeitig die allererste Zusammenkunft der neu gewählten Abgeordneten. Sie wurde einen Tag verschoben, um den beiden Sondiererinnen und ihren 19 Gesprächspartnern die Gelegenheit zu geben, jeweils alle Mitschriften preiszugeben.
Also doch. Ertappt
Veröffentlicht wurden die gesammelten Notizen um elf Uhr morgens, sie schlugen ein wie eine Bombe. Da stand es unmissverständlich: Es wurde sehr wohl über Omtzigt gesprochen, man hatte gar erwogen, ihm einen Posten im Kabinett zu geben. Also doch. Ertappt. Als alle realisiert hatten, was geschehen war, wirkte das Parlament kurzfristig wie ein aufgeregter Hühnerhaufen. «Es ist skandalös, was hier passiert», sagte etwa Parlamentsneuling Sylvana Simons von der Partei Bij1. «Die Legislaturperiode auf diese Weise zu beginnen, das ist unvorstellbar.»
Im Parlament entschuldigte sich Rutte. Er habe aber nicht gelogen, sich vielmehr «falsch erinnert», was er aufs Tiefste bedauere. Den Medien habe er «nach bestem Wissen und Gewissen» Auskunft gegeben. Vermutlich sei es am Rande der Sondierungsgespräche privat um die Person Omtzigt gegangen. Davon abgesehen, habe er persönlich keinerlei Motiv, um über ein mögliches Wegloben von Omtzigt zu sprechen.
Die Opposition reagierte mit schärfster Empörung, sie fiel geradezu her über Rutte. «Vollkommen unglaubwürdig» sei er, hiess es allenthalben, er bringe Schande über das Haus, hier zeige sich die «Arroganz der Macht». «Ich weiss wirklich nicht, was ich da gerade gehört habe», sagte die Sozialistin Lilian Marijnissen. «Die niederländische Politik ist krank, todkrank», sagte Wilders: «Mit einem Premier, der eiskalt lügt, können wir nicht weitermachen.» Rutte habe eine «Pinocchio-Nase von hier bis Südamerika». Die Linksliberale Sigrid Kaag verwies auf frühere Vorfälle, in denen Rutte Erinnerungslücken vorschob und sprach von einem «Muster von Vergesslichkeit und Amnesie. Wie wollen Sie in der grössten Krise der Niederlande das Vertrauen wiederherstellen? Den Schaden wiedergutmachen?» Der Grüne Jesse Klaver erinnerte an den Watergate-Skandal und Richard Nixons berühmten Satz: «I'm not a crook», ich bin kein Verbrecher.
Einen langen Nachmittag lang stand Rutte im Trommelfeuer der Kritik, nicht eine einzige Stimme fand sich, die ihn verteidigte. Erschwerend kam hinzu, dass Rutte offenbar vorab über den brisanten Inhalt der neuen Veröffentlichung informiert worden war. Er wisse das «vom Hörensagen», sagte er zunächst, um später zuzugeben, dass ihn eine Quelle, die er nicht nennen könne, morgens um halb acht informiert habe.
Omtzigt leidet an einem Burn-out
Am Donnerstagabend sollten die Sondiererinnen zu Wort kommen. Und irgendwann wollte man auch noch abstimmen. Verliert der Premier, was abzusehen ist, bedeutet es das Ende seiner politischen Karriere. Die lange Ära Rutte wäre vorbei.
Obwohl es fast nur um ihn ging, war Omtzigt selbst am Donnerstag bei der Debatte nicht anwesend. Er leidet seit Längerem an einem Burn-out, was den allgemein als brutal und geschmacklos empfundenen Kabalen gegen ihn eine zusätzliche pikante Note gibt. Obwohl er sich eine Phase kompletter Medienabstinenz verordnet hat, nahm er am Mittwoch bei einem spontanen Interview kurz vor seiner Neu-Vereidigung als Abgeordneter Stellung. Was man mit ihm vorgehabt habe, sei «eine Beleidigung für die niederländischen Wähler». Dabei verdrehte er die Augen, wirkte wie ein gehetztes Tier. Sein letzter, fast flehender Satz an die ihn bedrängenden Journalisten lautete: «Ich wünsche mir, dass ihr mich eine Weile in Ruhe lasst.»
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