Verkehr in der Stadt ZürichStadt Zürich beschliesst «weitgehend» Tempo 30
Bis 2030 will der Stadtrat die neuen Temporegimes durchsetzen. Die Bürgerlichen hoffen auf eine Korrektur durch die Stimmbevölkerung.
Es ist ein Entscheid auf den letzten Drücker. Die Zürcher Stadtregierung hat mehrfach versprochen, noch vor den Sommerferien einen Tempo-30-Grundsatzentscheid zu fällen. An der letzten ordentlichen Sitzung vor der Pause hat sich der Stadtrat auf ein Vorgehen geeinigt, wie er am Mittwoch mitteilt. Das sind die wichtigsten Punkte:
Was hat der Stadtrat entschieden?
Die Stadt Zürich will bis frühestens 2030 «weitgehend» Tempo 30 einführen. Das heisst: Auf fast allen Strassen sollen künftig tiefere Temporegimes gelten. Welche Strassen das sein werden, kommuniziert der Stadtrat allerdings noch nicht. Er hält aber in seiner Mitteilung fest: ÖV-Achsen sollen nicht verschont bleiben. In diesem Punkt unterscheide sich die neue Tempo-30-Welle zu früheren Etappen der Lärmsanierung. Auf den Strecken, an denen keine Anwohnenden von übermässigem Strassenlärm betroffen sind, soll in der Stadt Zürich weiterhin Tempo 50 gelten.
Wieso will die Stadt das Tempo senken?
Das Hauptproblem ist der Strassenlärm. In Zürich leben über 100’000 Menschen an zu lauten Strassen. Zürich muss die Zahl senken, der Bund verpflichtet die Stadt dazu. Der Lärm verursacht aus verschiedenen Gründen Probleme: Die Anwohnerinnen und Anwohner macht er krank, wie Studien zeigen, die Stadt hingegen wird blockiert. Aussichtsreiche Einsprachen, die sich auf das Lärmschutzgesetz berufen, verhindern Strassenbauprojekte und neue Hochbauten. Wird in der Stadt ein Gebäude an einer lauten Strasse baulich wesentlich verändert, wird eine Lärmsanierung zur Pflicht. Sind Neubauten an lärmigen Strassen geplant, braucht es Lärm-Ausnahmebewilligungen vom Kanton. Diese wurden jüngst mehrfach von Gerichten als ungenügend beurteilt und die Bauprojekte gestoppt. Pikant für die Stadt: Sie will genau dort verdichten, wo es lärmige Strassen hat.
Was wurde bislang gemacht?
Der Stadtrat hat zwar vielerorts Tempo 30 eingeführt, ist aber schwierigen Entscheiden aus dem Weg gegangen. Das heisst: Die Regierung zierte sich, auf Hauptstrassen Tempo 30 zu verfügen. Insbesondere dort, wo auch noch Bus- oder Tramlinien betroffen wären, da auch sie abbremsen müssten. Die zögerliche Haltung weckte bei links-grünen Stadtparlamentarierinnen und -parlamentariern die Ungeduld. Der Gemeinderat hat den Druck auf den Stadtrat vor einigen Wochen noch einmal erhöht. Sie wollen Tempo 30 auch auf Hauptstrassen einführen und dies entsprechend im Verkehrsrichtplan verankern, über den die Stimmbevölkerung voraussichtlich im November abstimmen wird.
Werden nun sofort alle Busse und Trams ausgebremst?
Nein, der Stadtrat will die neuen Temporegimes in Etappen einführen. Zuerst will er sich weiterhin auf jene Strecken konzentrieren, wo Auswirkungen auf den öffentlichen Verkehr gering sind. Also weiter wie bisher. Erst dann will er auch dort Tempo 30 verordnen, wo Tram und Bus ausgebremst werden könnten. Dort, wo dies geschieht, will die Stadt allfälligen Zeitverlusten entgegenwirken, wie sie in ihrer Mitteilung schreibt. Das soll zum Beispiel durch die Optimierung von Lichtsignalanlagen, eigenen Trassees oder Fahrbahnhaltestellen geschehen. Wo dies nicht ausreiche, soll zusätzliches Rollmaterial und Fahrpersonal eingesetzt werden, was Kosten verursacht.
Wie hoch sind diese Kosten?
Tempo 30 bremst den öffentlichen Verkehr aus. ÖV-Vertreter fürchten deshalb um die Attraktivität von Tram und Bus. Zudem warnen sie vor Mehrkosten. Wollen die VBZ den Takt aufrechterhalten, müssen sie die Zeitverluste mit zusätzlichem Rollmaterial und Fahrpersonal kompensieren. Sie schätzen die jährlich wiederkehrenden Mehrkosten, die ein flächendeckendes Tempo-30-Netz verursachen würde, auf 20 Millionen Franken.
Der ZVV hat sich bislang auf den Standpunkt gestellt, dass er diese zusätzlichen Kosten nicht übernehmen werde. Das links-grüne Lager kritisierte diese Haltung. Ein Argument: Der ZVV bewilligt im Rahmen der Fahrplanverfahren Gelder für sogenannt betrieblich notwendige Massnahmen, um die Kapazität aufrechtzuerhalten. Damit wurden auch Massnahmen finanziert, welche die Pünktlichkeit von Tram und Bus aufrechterhalten, obwohl sie im Stau standen. Die Stadt schätzt diese Kosten auf jährlich rund 20 Millionen Franken.
Ob der ZVV bei dieser Haltung bleiben wird, wird sich in den nächsten Monaten zeigen. Die städtischen ÖV-Vertreter der Regionalen Verkehrskonferenz (inklusive FDP-Stadtrat Michael Baumer) beantragen beim ZVV, die Zusatzkosten für Tempo 30 für Tram und Bus in Höngg zu übernehmen. Gleichzeitig schmieden Kantonspolitiker Pläne, um innerhalb des Rahmenkredits Geld für Lärmschutzprojekte zu beantragen.
Der Stadtrat hat nun entschieden, die Mehrkosten zu übernehmen, bis die offenen Fragen mit dem Kanton und dem ZVV geklärt sind. Da sich die Stadt aber zuerst auf jene Strassen konzentrieren will, wo ÖV-Auswirkungen gering sind, wird die Finanzierungsfrage geklärt sein, bis die grossen Brocken anfallen.
Was sagen die Linken?
Als einen längst überfälligen, «grossen Schritt» lobt Markus Knauss, Grünen-Gemeinderat und Co-Geschäftsführer des Zürcher VCS, den Entscheid. Knauss gehört zu den schärfsten Kritiker des bislang zurückhaltenden Vorgehens des Stadtrats. Dagegen wehrte sich der VCS erfolgreich mit Einsprachen und Rekursen. Nun müsse die Stadt die dichtest bewohnten und lautesten Strassen als erste verlangsamen, heisst es in einer Mitteilung,
Als «grundsätzlich super» bezeichnet SP-Gemeinderätin Simone Brander den Stadtratsentscheid. Allerdings habe dieser unter dem Druck aus dem Gemeinderat sowie aufgrund der Bundesgesetzgebung und mehrerer Lärmschutz-Gerichtsurteile kaum anders entscheiden können. In Bezug auf die Umsetzung bleibe der Stadtrat leider vage. «Nun soll es möglichst rasch vorwärtsgehen», sagt Brander.
Zudem müsse die Stadt mehr unternehmen, um die drohende Verlangsamung des öffentlichen Verkehrs auszugleichen. «Man kann die Busse mit weiteren eigenen Trassees aus dem Stau holen und sie mit einer besseren Steuerung der Lichtsignale noch stärker bevorzugen», sagt Brander. Sollten sich trotzdem Zusatzkosten ergeben, müsse der ZVV diese übernehmen.
Was finden die Bürgerlichen?
Von einem «dummen Entscheid» spricht Andreas Egli (FDP). «Man gibt sehr viel Geld aus, um unseren hervorragenden öffentlichen Verkehr zu verschlechtern.» Auch die Hierarchie der Strassen werde aufgehoben. Künftig werde man mit dem Auto auf den Hauptstrassen gleich schnell vorwärtskommen wie auf den Quartierstrassen. «Das wird Ausweichverkehr schaffen.»
Den Strassenlärm würde Egli mit Flüsterbelägen bekämpfen. Die zu erwartende Zunahme an Elektro-Autos werde die Achsen sowieso leiser machen. Auch die Qualität der Fenster und Fassaden habe sich deutlich verbessert. «In Zeiten von Minergie Plus macht es wenig Sinn, den Lärm generell mit offenem Schlafzimmerfenster zur Strasse hinaus zu messen.»
SVP-Gemeinderat Stephan Iten fürchtet ebenfalls um die Attraktivität des öffentlichen Verkehrs. Die Annahme, dass dieser dank neu eingestellten Lichtsignalen und mehr eigenen Trassees das Tempo behalten könne, sei «linksgrünes Wunschdenken». Ausserdem würden solche Massnahmen die Autofahrer weiter einschränken. «Bald kommen die Gewerbler nicht mehr zu den Kunden und umgekehrt.»
Die Bürgerlichen setzen nun auf die Volksabstimmung zum Richtplan Verkehr, die wahrscheinlich diesen November stattfindet. Das Grundsatzdokument der Zürcher Verkehrspolitik, das der Gemeinderat kürzlich festgelegt hat, sieht ebenfalls Tempo 30 auf allen Strassen vor. «Diese Abstimmung wird ein Richtungsentscheid», sagt Iten. Ein «Nein» sei durchaus möglich. «Langsam erwacht die Bevölkerung.»
Wieso harzte es beim Entscheid?
Eigentlich sollte der Entscheid schon längst vorliegen. Im vergangenen Jahr war Tempo 30 mehrfach Thema im Stadtrat. Die Federführung wurde von Tiefbauvorsteher Richard Wolff (AL) an Sicherheitsvorsteherin Karin Rykart (Grüne) übergeben. Seither brütete die Verwaltung über einem neuen Tempo-30-Entwurf. Strasse für Strasse schaute sich die Projektgruppe an. Und bereits Ende Juni war die Regierung in einer Retraite. Thema: die neue Tempo-30-Welle. Einen Entscheid fällte das Gremium wiederum nicht. Angesichts der Kräfteverhältnisse in der Regierung überrascht dies. Die linken Parteien haben gemeinsam mit dem GLP-Politiker Andreas Hauri sieben von neun Sitzen und die Schlüsseldepartemente Tiefbau, Verkehr und Gesundheit bei sich. Auch politisch würde ein ausgedehntes Tempo-30-Netz ihren Ideen entsprechen. Doch offenbar hatten die Argumente der freisinnigen Minderheit, insbesondere von ÖV-Vertreter Michael Baumer, viel Gewicht in der Diskussion.
Wie machen es andere Städte?
Die Stadt Winterthur kam Zürich zuvor. Sie hat vergangene Woche beschlossen, ein flächendeckendes Tempo-30-Netz zu ziehen. Der Zeitrahmen: 20 Jahre. In Lausanne gilt ab September praktisch auf allen Strassen ab 22 Uhr Tempo 30.
Fehler gefunden?Jetzt melden.