Deutschschweizer am Lac LémanSo entspannt war es am Genfersee noch nie
Kein Montreux Jazz Festival, kein Paléo – ohne die vielen Festivals ist es gerade extrem ruhig am Genfersee. Auch darum bereisen Deutschschweizer Touristen die Region.

«Riviera» nennen Waadtländer das Genferseeufer zwischen Lutry und Villeneuve voller Stolz. Den Vergleich mit der französischen Riviera (Côte d’Azur) und der italienischen Riviera (Ligurien) scheuen sie nicht. Im Sommer mutiert die pittoreske Waadtländer Riviera jeweils zur lauten Festhütte.
Allein das 16 Tage dauernde Montreux Jazz Festival bringt der Region rund 60’000 Übernachtungen und eine Million Besucherinnen und Besucher. Ist das Jazz Festival zu Ende, zieht das Partyvolk ans eine Woche dauernde Paléo Festival nach Nyon weiter. Noch im letzten Sommer lebte die Riviera in einem zwei Monate dauernden Festrausch.
Wegen der Fête des Vignerons in Vevey, die durchschnittlich alle 25 Jahre stattfindet, kamen zwischen Juli und August eine Million Besucher an den Genfersee. 23 Prozent stammten aus der Deutschschweiz.
In diesem Jahr ist alles anders. Wegen der Corona-Pandemie liegt eine grosse Stille über der Riviera. In Montreux wurde nach dem Jazz Festival auch das internationale Klassikfestival Septembre Musical abgesagt. In Nyon gibt es kein Paléo. In Vevey mag man sich nicht ausdenken, was passiert wäre, hätte die Fête des Vignerons in diesem Jahr stattgefunden. In dieser ungewohnten Sommerfestflaute fallen plötzlich die vielen Deutschschweizer Familien auf, die den Genfersee entdecken.
In Jaun gelandet statt in Irland
Im Städtchen Vevey läuft eine vierköpfige Familie aus dem Baselbiet auf der Seepromenade in Richtung Badi. «Wir wollten nach Irland in die Ferien, haben aber alles abgesagt», sagt die Mutter. Statt in Dublin sei man nun im freiburgischen Jaun gelandet und man entdecke gerade, dass man innert Minuten von den Freiburger Bergen am Genfersee sei und da herrlich baden könne. Irland vermisse sie gar nicht, beteuert die Frau.
Eine Familie aus der Ostschweiz sitzt derweil gemütlich in einem Restaurant beim Mittagessen. «Ich arbeitete vor langer Zeit als Au-pair-Mädchen in Lausanne und wollte immer an den Genfersee zurück, aber es hat sich einfach nie ergeben», erzählt die Mutter. Eigentlich habe man in diesem Jahr Ferien im Tessin geplant, aber der Süden sei wegen der coronabedingten Reiseblockaden völlig überlaufen, darum mache sie mit ihrem Ehemann und den Kindern jetzt Ferien auf dem Campingplatz in Villeneuve, mitten im Naturschutzgebiet.
Dass man in diesen Tagen am Genferseeufer die diversesten Deutschschweizer Dialekte hört, sorgt bei Christoph Sturny für Erleichterung. Der Deutschfreiburger ist Direktor der Tourismusorganisation Montreux-Vevey. Mit anderen Touristikern und Festivalveranstaltern arbeitete Sturny während Wochen unter Hochdruck, um in Montreux und Vevey trotz Krisenstimmung etwas zu bewegen und an Schwächen zu arbeiten.
Für Grégoire Furrer, den Gründer und Leiter des Montreux Comedy Festivals, eine gute Sache. «Normalerweise sind alle gestresst und jeder arbeitet für seinen eigenen Erfolg, doch endlich hatten wir einmal Zeit, um etwas gemeinsam zu realisieren und über wichtige Themen wie Mobilität und Parkplätze zu reden», sagt er.

An der Riviera herrsche im Sommer stets Dolce Vita, sagte sich das Kollektiv um Sturny und Furrer, doch in Vevey und Montreux gebe es zu wenig Zugänge zum See und ausserhalb der Strandbäder nur spärlich Badegelegenheiten. Also entschied man, Holzstege ans und übers Wasser zu bauen und zusätzliche Badezonen zu schaffen. Eine Million Franken brachten Sturny, Furrer und seine Mitstreiter innert Tagen zusammen.
Doch das Geld war plötzlich das kleinere Problem. Die Schwierigkeit war, Bewilligungen zu bekommen. Die kantonalen Departemente für Bau und Umwelt redeten mit und am Ende machte auch der Chefkapitän der Genfersee-Schifffahrtsbetriebe Druck: Falls Badezonen zu nahe an Schiffsrouten geplant würden, fahre man Haltestellen in der Nähe nicht mehr an. Schliesslich wurde ein Vertrag unterschrieben und Bojen gesetzt, um die Badezonen zu begrenzen und den Sicherheitsabstand zu den Kursschiffen zu markieren.
Die Araber müssen zuhause bleiben
Die Holzstege wurden inzwischen fürs Publikum freigegeben. Jetzt wird an neuen Orten gebadet. In Montreux gibt es einen Sandstrand und Jazzkonzerte für maximal 250 Personen. Die Terrassen von Restaurants wurden allesamt vergrössert. Nur der geplante Bau eines 80 Meter hohen und 270 Tonnen schweren Aussichtsturms in Seenähe liess sich bislang nicht realisieren. «Die Gäste sind da, aber sie buchen oft heute und kommen morgen und bleiben dann zwei oder drei Nächte», stellt Christoph Sturny fest. Zimmer in traditionellen Hotels würden im letzten Moment gebucht, wenn klar sei, dass das Wetter schön und die Corona-Pandemie weiter unter Kontrolle ist. (Lesen Sie hier, wie es an Tourismus-Hotspots der Schweiz zu ungesunden Ballungen und Konflikten kommt.)
Das ist neu, denn üblicherweise weilen Hundertschaften von Arabern in diesen Tagen jeweils tagelang in Montreux und Umgebung. Wegen Corona bleiben sie in ihrer Heimat blockiert. Den Zeltplatzbetreibern von Villeneuve bis Lausanne ist dies egal. Im Gegensatz zu den Hotels sind sie permanent gut ausgelastet.

Für die Hoteliers an der Waadtländer Riviera sind die Zeiten nicht einfach, auch wenn sie an Spitzentagen zwei Drittel ihrer Zimmer verkaufen können. Sie müssen flexibel sein. Doch den Gästen geht es offensichtlich bestens. Im Garten des Hotels Montreux Palace liegen sie so entspannt am Pool wie sonst nie im Juli. Von den Meuten von Jetsettern, die im Sommer stets in diesem Schwimmbad treiben, ist nichts zu sehen, vom Dauerrauschen des Festivallärms nichts zu hören, und die obligate Champagnerbar wurde gar nicht erst aufgestellt.
Allen ist klar: Lange dürfte das nicht so bleiben. Im nächsten Sommer könnte die Riviera wieder zur Festhütte mutieren. Dann lassen sich die heutigen Gäste wohl nicht mehr blicken. Doch Tausende andere kommen zurück. Gut möglich ist, dass die Holzstege und Badeabschnitte aus Corona-Zeiten gleich stehen bleiben.

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