Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Aufregendes Champions-League-Duell
Sie sind die grossen Verheissungen des Calcio

Begegnen sich oft im Mittelfeld: Inters Nicolò Barella (l.) und Milans Sandro Tonali. 

Klasse ist nicht aus Wasser, sagen die Italiener. Wahre Klasse fliesst einem nicht durch die Finger, das soll dieser Sinnspruch bedeuten, sie entwischt nicht so schnell, wie das banale Mittelmässigkeit tut. Wenn es zählt, ist sie da und wiegt schwer.

In Mailand hat das Hinspiel im Halbfinal der Champions League vor allem eines gezeigt, eine eigentlich schon lange gefestigte Gewissheit: Inter hat mehr Klasse in seinen Reihen als der Stadtrivale Milan, und zwar bis ans Ende der langen Spielerbank. Wahrscheinlich hat der FC Internazionale nominell überhaupt das beste Kader der laufenden Serie A, besser noch als Meister Napoli.

Wenn das manchmal etwas vergessen ging in dieser Saison, dann lag das an den zwischenzeitlichen Amnesien der Mannschaft. In den Cupwettbewerben, dem nationalen und dem europäischen, war sie fast durchwegs stark. In der Meisterschaft dagegen war sie insgesamt medioker, da zerrieselte die Klasse wie ein Sturzbach.

Standpauke von den Ultras

Inter also gewann sein Auswärtsspiel im San Siro so überzeugend – 2:0 mit Chancen für ein 4:0 schon in der Halbzeit –, dass man sich in Mailand fragt, ob es denn eine Aussicht gibt, dass Milan dieses Euroderby am Dienstag im Rückspiel noch kippt. Auch das Präludium spricht für Inter, es gewann am Wochenende gegen Sassuolo 4:2. Während Milan in La Spezia gegen den Viertletzten der Serie A 0:2 verlor und dabei so kraft- und ideenlos wirkte, dass sich Spieler und Trainer danach einen schmachvollen und auch etwas grotesken Gang unter den Sektor ihrer mitgereisten Fans antaten, um sich von kahl rasierten Ultra-Chefs eine Standpauke anzuhören.

Die Tickets für das Rückspiel in Mailand sind schon lange alle weg, als wäre alle Spannung noch drin. Zumindest die Interisti fürchten nicht, sich da zu langweilen: 500’000 hätten gerne eine Karte gehabt, wo es doch im Stadion nur Platz für etwa 75’000 gibt.

Kann Leão die Nummer noch drehen?

Natürlich, wenn dann der portugiesische Flügel Rafael Leão, der bei Milan für ungefähr die Hälfte der Gesamtklasse steht, wieder dabei und bei vollen Kräften ist, dann lässt sich ein bisschen debattieren. Gerade hat er seinen Vertrag bis 2028 verlängert, für neu sieben Millionen Euro Jahresgehalt. Das ist schon sehr viel mehr, als er bisher erhielt. Aber Leão braucht Raum, um sich zu entfalten, mindestens ein paar Meter Rasen für den imposanten Antritt. Und Inter wird wohl alles daransetzen, ihm auf der linken Flanke jeden freien Zentimeter zu verwehren. Wenn es nur eine taktische Devise geben soll, dann diese.

Der Hoffnungsträger und der Milan-Fan: Rafael Leão (r.) war im Halbfinal-Hinspiel verletzt und deshalb nur Zuschauer – wie Tennisstar Novak Djokovic. 

Der Damm steht im Mittelfeld, wo ja so viele Fussballspiele entschieden werden, und da ist die Klasse Inters überaugenfällig. In Technik, Erfahrung, Power. Im Mittelfeld der beiden Mailänder Vereine stehen zwei italienische Spieler, die je für sich die Farben reflektieren, die sie tragen, die auch in der Nationalmannschaft als Verheissung für die Zukunft gelten, die sie nachgerade kristallisieren: Nicolò Barella, 26 Jahre alt, Sarde aus Cagliari, von Inter, und Sandro Tonali, 23, Lombarde aus Lodi, von Milan.

Beide waren schon als Kinder Fans ihrer Vereine. Einer von ihnen reduzierte sogar sein bereits versprochenes Salär, um seinen Liebestraum leben zu können. Beide werden mit grossen Vorbildern verglichen, obschon sie selbst das Zeug zu Vorbildern haben.

Barella wird mit einer Zitronenpresse verglichen. Im Keller hat er gute Weine liegen.

Von Barella schrieb die «Gazzetta dello Sport» einmal, er sei wie ein wunderbares Produkt des italienischen Designs: funktional und elegant. Man muss dazu sagen, dass in Mailand gerade die Design Week lief, daher die Assoziation. Barella erinnert die «Gazzetta» an die berühmte Zitronenpresse von Alessi, einer gefeierten Marke für hübsche und auch mal exzentrische Küchenutensilien. Alessis Zitronenpresse, entworfen vom Franzosen Philippe Starck, steht auf stählernen Beinen und sieht aus wie eine Spinne, sie wurde zur Designikone.

Und jetzt die Erklärung: Für das Sportblatt presst der recht klein gewachsene «Bare», 1,75 Meter gross, mit seinem dauerwirbligen Spiel zwischen Abwehr und Offensive sich selbst, seine Mitspieler und mithin seine Gegner aus wie Zitronen. Bis kein Saft mehr drin ist, in keinem. Das ist seine funktionale Seite: Er läuft hin und her, Box-to-Box. Fängt Bälle ab, kreuzt Lauflinien. Doch da Barella im Umgang mit dem Ball ästhetische Ansprüche an sich stellt, schiesst er auch spektakuläre Tore, gerne akrobatisch ausgeführt. Man verglich ihn schon mit Gianfranco Zola, Sarde wie er, oder mit Marco Tardelli, einem der Helden der WM 1982 in Spanien.

Kann auch Tore schiessen: Nicolò Barella traf in beiden Viertelfinalspielen gegen Benfica. 

In seinem Gestus ist Barella oft eine Diva, er verwirft ständig die Arme, wenn ihn seine Kameraden übersehen oder mal nicht präzise bedient haben. Das Gebaren geht denen regelmässig auf die Nerven, zumal den Superstars im Team. Aber Barella ist jetzt selbst auch ein Superstar. Gross wurde er in der Fussballschule Gigi Riva in einem Vorort von Cagliari. Der grandiose Gigi Riva, Stürmer von Cagliari und der Nationalmannschaft in den 60er- und 70er-Jahren, ist der Paradesarde schlechthin, ein Lokalheiliger. Barella zollt ihm bei jeder Gelegenheit Tribut, das ist wie ein obligatorischer Reflex, und Riva, heute 78, sendet immer nette Worte zurück.

Barella ist Vater von drei Mädchen. Seine Frau, ein früheres Fotomodell, ist sieben Jahre älter als er. Auch sie ist Sardin. Er mag grosse Weine, im Keller sollen 500 tolle Flaschen liegen, viele sardische. Interista ist er, weil sein Vater Interista ist, seine Onkel, fast die ganze Verwandtschaft. Seit vier Jahren spielt er für Inter, und der Verein sieht in diesem Sarden eine Schatzinsel. Dass Inter nun kurz vor dem Einzug in den Final steht, liegt auch an den zwei Toren von Barella gegen Benfica Lissabon im Viertelfinal.

Ein «Gattuso mit viel Technik»

Sandro Tonali von Milan musste sich einige Jahre lang gegen einen Vergleich wehren, der nett gemeint war, aber nur leidlich passte: Alle nannten ihn den «neuen Andrea Pirlo». Die Haare, das stimmt, trug er lange Zeit ähnlich wie der Maestro. Sein Körperbau erinnert an Pirlos, der Gang. Auch die Stimme: dasselbe tiefe Timbre. Und wie Pirlo redet Tonali nicht so gerne vor Mikrofonen und Kameras, in den sozialen Medien ist er kaum präsent. Beide sind ausdrücklich reserviert in der Öffentlichkeit.

Sportrelevant vergleichbar ist vielleicht Tonalis Position auf dem Platz: Wie einst Pirlo gibt er meistens den tief stehenden Regisseur, den Wischer und Ballverteiler gleich vor der Defensive. Zuweilen schiebt ihn sein Trainer Stefano Pioli aber weit nach vorne, damit er direkt in die Offensive eingreifen kann. Auch im Hinspiel gegen Inter war es so: Die gefährlichste Aktion der Milanisti ging von Tonalis Fuss aus, ein satter Schuss an den Pfosten.

Als man Pirlo einmal fragte, ob Tonali denn sein Erbe sei, sagte er: «Nein, er ist kompletter, als ich es war, ein anderer Spielertypus. Und er ist derzeit sicher der vielversprechendste Mittelfeldspieler in Italien.»

Nicht sicher, ob das den Druck auf den jungen Mann verringert hat. In Italien reden sie den Nachwuchs immer schnell sehr gross – und wundern sich dann, dass manche Junge die fremdgeschürten Erwartungen nicht erfüllen. Als Tonali klein war und Fan von Milan, war Gennaro «Rino» Gattuso sein Idol: ein Arbeiter vor dem Herrn, mit Schwielen an Füssen und Ellbogen. Dessen Ethos imponierte Tonali. Nun nennt man ihn zuweilen auch «Gattuso mit viel Technik», und mit dieser Beschreibung kann er gut leben, wie er einmal sagte.

Tonali verzichtete auf 400’000 Euro

Tonali wollte immer zu Milan, in der Jugend hatte er für Lombardia 1 gespielt, einen Satellitenverein der Rossoneri. In Brescia wurde er Profi, das Debüt in der Serie B gab er mit 17. Als dann grosse Vereine sich um ihn bemühten, unter anderem Juventus und Inter, dazu ein paar englische, wartete er geduldig, bis sich endlich auch Milan meldete – und ging dahin, wo das Herz ihn hinriss.

Wollte schon immer zu Milan: Seit Sommer 2021 spielt Sandro Tonali für seinen Herzensclub, Trainer Stefano Pioli (l.) sei Dank. 

Die Anfänge waren nicht einfach, der Verein hatte auch finanzielle Nöte. Da verzichtete Tonali auf einen schönen Teil seines Gehalts, um bleiben zu dürfen – er ging runter von 1,6 auf 1,2 Millionen Euro. Unterdessen verdient er viel mehr. Er ist ja auch richtig angekommen, ein Leader mit Zukunft, Meister mit Milan ist er auch schon.

Aber die Fans vergessen seine Geste mit dem Salär nicht. Tonali ist so einer wie Gattuso, wie Pirlo, wie Paolo Maldini, wie Franco Baresi – ein langjähriger Lebensabschnittspartner für Milan. Ob sich das Euroderby nun noch drehen lässt oder eben eher nicht. Klasse zerrinnt schliesslich nicht.