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Der Tätowierer von Vals
Seine Leidenschaft geht unter die Haut

Manche bewundern ihn, andere wundern sich: Die Leute im Dorf wissen nicht so recht, was sie mit so einem anfangen sollen. Und wäre er nicht einer von ihnen, seit Generationen in der Surselva verwurzelt, würden sie ihm wohl recht deutlich zu verstehen geben, wie fremd ihnen das ist, wofür und wovon er lebt.

Sandro Casutt, 38 Jahre alt, ist ein ziemlich bunter Hund im Bergdorf Vals.

Tätowierer und Sternenkenner: Sandro Casutt in seinem Tattoo-Studio in Vals. 

Gelernt hat er Elektromonteur, aber die Energie, die aus der Steckdose kommt, hat ihn nie wirklich interessiert. Bald schon stand er bei der Mutter in der Hotelküche des Edelweiss, wusch Salat, schälte Kartoffeln, schrubbte Pfannen und spürte, wie eine innere Unrast ihm den Seelenfrieden raubte – ein Gefühl, das ihn zunehmend lähmte, bis zu dem Tag, an dem er alles hinschmiss und sagte: «Jetzt mach ich das, was ich insgeheim schon immer machen wollte.»

Was Ötzi und Sissi gemein haben

Die Geschichte des Tattoos fasziniert ihn schon lange. Ötzi, die Gletschermumie vom Similaun-Gletscher – er hatte sich vor fünftausend Jahren seltsame Zeichen unter die Haut ritzen lassen. Sissi, die unglückliche österreich-ungarische Kaiserin – sie hütete den Anker auf der Schulter als kleines süsses Geheimnis. Seefahrer ergänzten den Anker mit einer Rose und verewigten beides auf Brust und Bizeps. Ganoven und Dirnen gaben sich einander durch Tattoos zu erkennen.

Sandro Casutt hat sich das Konterfei von Albert Einstein auf den Oberarm tätowieren und den Unterarm komplett einschwärzen lassen. «Die Frau, die mich damals gestochen hat, war so zart und liebevoll, dass ich den Schmerz als angenehme Begleiterscheinung wahrnahm», erinnert er sich. Und er nahm sich diese Erfahrung zu Herzen: «Wenn ich selber steche, will ich den Schmerz, der nun einmal dazugehört, mit empathischer Sanftheit lindern!»

Kühlschränke für Sibirien

Im Obergeschoss eines Industriegebäudes, am Ufer des Valser Rheins, hat er sein Studio eingerichtet – er nennt es «Färberei»-Werkstatt – und «verkauft Kühlschränke für Sibirien», wie Linus Livers, Moderator im romanischen Lokalradio, öffentlich spottete. Will heissen: In der Tausend-Seelen-Gemeinde Vals ist ein Tattoo-Studio ähnlich entbehrlich wie ein Kühlaggregat in der russischen Arktis.

«Höchst selten», bestätigt Sandro Casutt, habe er einen Einheimischen auf dem Schragen. In der Szene allerdings, in der überschaubaren Subkultur jener, die ihre Haut als lebendige Leinwand zu Markte tragen, hat sich rasch herumgesprochen, dass in einem kleinen Bergdorf einer mit scharfem Auge und feinem Händchen die Nadel führt. Und schon bald nach der Eröffnung vor zehn Jahren nahmen Kunden aus nah und fern den Weg nach Vals auf sich.

«Wenn ich steche, will ich den Schmerz, der nun einmal dazugehört, mit empathischer Sanftheit lindern»: Sandro Casutt bei der Arbeit.

Sie kommen aus Schluein bei Ilanz, wo der frühere Arbeitskollege Ricardo Sgier zunächst sein erster Kunde und bald auch sein bester Freund wurde. Und aus Deutschlands hohem Norden, von wo aus Hannah die lange Reise ins Bündnerland gleich zweimal angetreten hat: Beim ersten Mal war sie noch ein kleines Mädchen, das mit den Eltern in den Urlaub gefahren war, um am Fuss des Zervreilahorns das Skifahren zu lernen. Als junge Frau, mittlerweile selbst schon Mutter geworden, kehrte sie zurück, um sich von Sandro ihren Lieblingsberg auf dem Unterarm verewigen zu lassen.

Warum tun Menschen sich das an? Warum nehmen sie Schmerzen auf sich, um für den Rest ihres Lebens gezeichnet zu sein – mit einem Motiv, das vielleicht irgendwann einmal nicht mehr gefällt und kaum wieder rückgängig gemacht werden kann?

Sandro Casutt lächelt, die Frage hört er nicht zum ersten Mal – und ... «nun ja, es gibt eine sehr einfache Antwort», sagt er. «Weil es schön ist! Weil der Körper des Menschen an sich schon ein Kunstwerk ist, das kreativ gestaltet werden will.»

Parabeln für Vergänglichkeit und Hoffnung

Und dann gibt es noch die vielen, nicht mehr ganz so einfachen Antworten, die in der Regel nur für den gelten, der sie formuliert. Ricardo Sgier etwa, Sandros früherer Arbeitskollege und heutiger Freund aus dem Nachbartal, verbindet mit der Tattoo-Nadel den Körperkult mit Ahnenkult: Totenköpfe zieren seine Oberschenkel neben dem Porträt einer schönen, alten Frau. «Das ist meine Grossmutter», sagt der 33-jährige Tontechniker. «Sie lebte noch, als ich sie auf meine Haut stechen liess – und sie freute sich, dass sie nach ihrem Tod auf diese Weise weiterleben würde.» Und die Totenköpfe? «Das sind die Ahnen, die vorangegangen sind.»

Sandro und Ricardo haben sich darauf geeinigt, dass der eine aus dem Körper des anderen eine Parabel für die Zeit macht, für Vergangenheit und Vergänglichkeit und für Hoffnung – es ist ein Langzeitprojekt: «Für meine Eltern», sagt Ricardo, «ist noch genug Platz!»

Sandro Casutt sticht nicht immer, nicht alles, nicht jeden. Bevor er sein Tätowiergerät mit Tinte befüllt und die Nadel ansetzt, will er genau wissen, mit wem er es zu tun hat. «Wir führen erst einmal ein ausführliches Gespräch», sagt er. Befindlichkeit, Lebenssituation, Umfeld, Herkunft – der ganze Mensch wird ausgelotet, und «wo eine gewisse charakterliche Reife fehlt» oder «wenn jemand einfach nur ein chinesisches Schriftzeichen gestochen haben will», kann es durchaus vorkommen, dass eine ehrliche, aber unbedarfte Haut unversehrt nach Hause fährt...

Was ist gegen chinesische Schriftzeichen einzuwenden? «Im Grunde gar nichts – sie sind ja durchaus auch schön. Aber es ist wichtig, dass man das, was man auf der Haut trägt, auch versteht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Chinese sich arabische Schriftzeichen als Tattoo stechen lässt.»

Sandro und das Geheimnis des Glücks

Tattoo-Sujets und Sternenhimmel-Fotos: Wand in Sandro Casutts Studio. 

In klaren, mondlosen Nächten schultert Sandro das Teleskop und die Kameraausrüstung und begleitet seinen Bruder Markus ins Gebirge. Die beiden steigen bis über die Waldgrenze hinaus. Wenn kein irdisches Licht mehr den Glanz der Sterne trübt, lassen sie sich von der Dynamik des Kosmos in den Bann ziehen und visualisieren mit raffinierter Langzeitbelichtung den Lauf der Sterne am Firmament.

Der Sternenhimmel über Vals, fotografiert von Sandro Casutt.

In solchen Momenten entdeckt Sandro das Geheimnis des Glücks: «Du siehst da eine Wahrheit, die im selben Moment schon seit Lichtjahren vergangen ist. Du blickst in die Ewigkeit hinaus und zugleich tief hinein in dein innerstes Selbst. Da findest du dich in deinem eigenen Universum.» Er legt eine Pause ein. Und fährt mit sanftem Lächeln fort.«Mit dem Tätowieren ist das genau so. Du arbeitest an der Oberfläche des Menschen. Und kehrst sein Innerstes nach aussen. Es sind dieselben Widersprüche, dieselben Auflösungen.»

Vielleicht sollte er wieder einmal etwas Neues stechen. Kein Sternbild. Aber ein Zeichen. Einen Löwenkopf. Oder den Wassermann.

Dieser Beitrag ist der letzte Teil einer Serie, die von Graubünden Ferien finanziert wird. Die redaktionelle Verantwortung liegt bei der SonntagsZeitung.

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