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Krise der Schweizer Vereine
Sogar der «Klub der langen Menschen» schrumpft

Bei ihnen sieht ein Tabourettchen sehr klein aus: Anna Tanner, 1,84 Meter, und Thomas Stebler, 1,97 Meter.
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Der Klub der langen Menschen (KLM) entfaltet seine wahre Grösse beim Steh-Apéro. Sehr grosse Menschen stehen im Casino in Pfäffikon SZ mit sehr klein wirkenden Gläsern in den Händen. Unter ihnen ist auch Thomas Stebler, 197 cm gross, 54 Jahre alt. Der Präsident des KLM hat zur Generalversammlung eingeladen, und er hat ein Problem. Sein Verein hat an Grösse verloren.

Wer in den KLM will, muss gross sein – als Frau mindestens 180 cm und als Mann 190 cm. Früher war der Verein ein wichtiges Netzwerk für lange Menschen und ihre Fragen. Wo lassen sich Schuhe ab Grösse 48 finden? Wer verkauft grosse Betten? Was übernimmt die Versicherung? 

An den Treffen wurden Tipps ausgetauscht, Adressen für Läden mit Übergrössen geteilt und auch mal ein Schneider eingeladen, der im Akkord Mass nahm. Inoffiziell war es auch eine Partnervermittlung – und ist es immer noch. Der in Pfäffikon anwesende 2-Meter-15-Mann fand seine 1-Meter-87-Frau bei KLM. Ein 2-Meter-10-cm-Hüne erzählt beim Apéro, dass es für ihn auch ein geschützter Ort war. Keine Hänseleien, keine komischen Blicke – alles auf Augenhöhe eben. 

Mittlerweile sind solche Tipps nur noch selten ein Thema an den Treffen. Das Internet hat vieles vereinfacht – und den Verein damit in die Bredouille gebracht. Der KLM hat ein Nachwuchsproblem. Die Mitglieder laufen davon, die Zahl sank in den vergangenen Jahren von über 300 auf 203, kaum jemand will noch ein Amt im Verein übernehmen. Die Sektion Basel war kurz davor, sich aufzulösen, weil sich kein Vorstand mehr bilden liess. 

Vielleicht habe man den Moment verpasst, sich neu zu positionieren, heisst es am Apéro. Häufig fällt auch der Satz, dass sich die heutige Jugend ja sowieso nicht mehr festlegen wolle. Man kennt es aus anderen Vereinen.

Darum sagt Präsident Stebler: «Es muss etwas passieren.»

«Nicht die einzige Giraffe im Club»

Anna Tanner, 184 cm gross, 29 Jahre alt, kennt diese Probleme nicht. Sie ist Präsidentin von One Eighty Up, dem Verein grosser Frauen. Mindestgrösse hier, logisch, 180 cm. 

Der  Club wurde 2016 gegründet. Eigentlich durch Zufall. Im Ausgang wurden zwei grosse Schwestern in einem Club von einer dritten grossen Frau angesprochen. Sie kamen ins Plaudern. Das Gefühl, nicht «die einzige Giraffe im Club zu sein», brachte sie näher. Kurze Zeit später wurde der Verein gegründet. 

Portrait von Anna Tanner, Praesidentin One Eighty Up Club (OEUC) der Verein der Grossen Frauen der Schweiz.
28.11.2023
(URS JAUDAS/TAGES-ANZEIGER)

«Einige Artikel in den Medien brachten uns ordentlich Zulauf», sagt Tanner, die den Verein 2019 mit ihrer Mutter übernommen hat. Heute hat One Eighty Up über 400 Mitglieder, die älteste Frau ist über 70, die jüngsten sind 16, die grösste ist fast 2 Meter, die kleinste, logischerweise, 180 cm.

«Wir wollen als Frauengruppe unterwegs sein, Herausforderungen besprechen, uns ermutigen und bestätigen.» Sie organisieren sich hauptsächlich über lokale Whatsapp-Gruppen und Instagram, das helfe auch, allfällige Hemmungen abzubauen, um überhaupt beizutreten. Vier bis fünf Anlässe gibt es pro Jahr. Es sind keine Stammtische oder Töfftouren wie bei KLM, man trifft sich meist auf Partys oder Ausflügen.

Weniger Bürokratie, mehr Vereinsleben

Auch die Frauen von One Eighty Up diskutieren Fragen, die sich vor allem grosse Menschen stellen. Habt ihr Kleidertipps? Wie gefährlich sind Hormonspritzen, um das Wachstum zu stoppen? Oder auch: Verliebt in einen kleineren Mann – was nun? Die Chats machen den Austausch informeller, die Gespräche brauchen auch weniger Organisation als ein Treffen im Säli eines Ochsen oder eines Rössli. 

Tanner erklärt das Wachstum des Vereins darum auch mit dem Unkomplizierten und dem klaren Fokus auf Frauen, das spreche sicher auch Jüngere an. «Du wirst hier einfach zur Freundin, die ‹Hierarchie› fällt.» So gibt es auch viele Töchter, die mit ihren ebenfalls langen Müttern Mitglied geworden sind.

Bei den Männern haperts

In Pfäffikon hat die Generalversammlung des KLM begonnen. Ziel von Präsident Thomas Stebler ist es, die Sektionen Basel, Bern und Zürich aufzulösen und im KLM Schweiz aufgehen zu lassen. Weniger Bürokratie, mehr Vereinsleben – so stellt er es sich vor und setzt gleich ein Ultimatum.

Wenn die strukturelle Anpassung keine Mehrheit findet, will der Vorstand in corpore zurücktreten. «Wir wollen uns nicht ständig organisieren, wir wollen gemeinsam Dinge erleben und das Vereinsleben geniessen», sagt Stebler. Doch die Struktur dafür sei zu komplex, der Aufwand zu hoch. Das Geld, so Stebler weiter, solle nicht in Vorstandssitzungen, sondern in die Anlässe fliessen. 

Flexibilität statt feste Verpflichtungen

KLM und One Eighty Up zeigen: Das Schweizer Vereinsleben ist in Bewegung. Nicht erst seit Corona, aber vor allem auch seither. Der Männerchor Tobel-Teufen, die Musikgesellschaft Hundwil, der Glarnerverein Basel. Sie alle haben sich in den letzten beiden Jahren aufgelöst. 

Der Soziologe Markus Lamprecht, 1,90 cm gross, aber in keinem Verein für lange Menschen, forscht seit Jahren zum Schweizer Vereinsleben. Er hat die Vereinsauflösungen mitbekommen,  spricht aber bewusst nicht von einem Vereinssterben. Auch nicht wegen Corona. «Die Vereine haben sich erstaunlich gut gehalten.» Zum Beispiel die Sportvereine, über die kürzlich eine Studie erschien. Die Pandemie überstanden sie praktisch unbeschadet, auch, weil sie Unterstützungsgelder bekamen. Wenn es zu Auflösungen kam, dann meist wegen Fusionen.

Markus Lamprecht, Schweizer Sportobservatorium, spricht an einer Medienkonferenz ueber die Studie "Sport Schweiz 2020", am Montag, 8. Juni 2020, im Medienzentrum des Bundeshauses in Bern. (KEYSTONE/Anthony Anex)

Doch es gibt sie, die Umwälzungen. Lamprecht spricht davon, wie sich Lebensformen verändern. Er meint: Die Menschen zügeln mehr, sie haben längere Arbeitswege, die Anforderungen im Privatleben sind gestiegen. Die Folge: Man sucht Flexibilität statt feste Verpflichtungen. 

Das spüren die Vereine. «Vor allem jene mit festen Strukturen und obligatorischen Terminen.» Menschen wollen sich zum Beispiel nicht mehr jeden Dienstag um 18 Uhr 30 treffen. Das spüren Musikvereine besonders, aber auch die Schützenvereine oder die Samariter Schweiz. Waren es 2015 noch über 25’000 Samariterinnen und Samariter, sank die Zahl auf heute 18’808. 

Wenn dann noch langjährige Ehrenamtliche aufhören, weil wegen Corona Angebote reduziert wurden und man neue Herausforderungen fand, dann könne das für Vereine existenzielle Folgen haben, erzählt Lamprecht. Ein genaueres Bild wird der Freiwilligen-Monitor liefern, der die Freiwilligenarbeit in der Schweiz auswertet. Nächste Publikation: 2025.

Lamprecht erwartet bis dann keine Zäsur. «Die Menschen suchen nach wie vor Gemeinschaft und Geselligkeit», sagt er. So gehen zwar Vereine ein, es entstehen aber auch wieder neue. Solche, die zeitgemässer sind und mehr den neuen Lebensformen entsprechen.

«Ich kann stolz auf meine Grösse sein»

Wie der Verein One Eighty Up von Anna Tanner. Der Verein verlangt keine Mitgliederbeiträge, es gibt keine Pflichttermine, die Eintrittsschwelle soll tief bleiben. «Es läuft simpel und subtil ab», sagt Anna Tanner. Sie betrachtet den Verein als Hobby. Die Anlässe organisiert sie mit ihrer Mutter. «Wir machen nur Dinge, an denen wir Freude haben. Und wenn dann niemand kommt, haben wir wenigstens einen schönen Mutter-Tochter-Tag», sagt sie. Zum Glück sei das aber noch nie passiert. 

Als Tanner 2018 dem Verein beitrat, traute sie sich erstmals, hohe Schuhe zu tragen. «Dieses Gefühl, dass ich stolz sein kann auf meine Grösse, will ich weitergeben an weitere Frauen.» Wenn sie dann hört, dass sich Frauen verlieben, egal, ob der Partner noch grösser oder zwei Köpfe kleiner ist, dann freut das Tanner besonders.

Tanner wehrt sich dagegen, dass One Eighty Up ein Konkurrenzverein zum KLM sei. «Thomas Stebler und ich tauschen uns regelmässig aus, geben Infos weiter und laden uns gegenseitig zu den Events ein», sagt Tanner. «Wir kannibalisieren uns nicht.»

Ein dringlicher Appell

In Pfäffikon geht die GV in die entscheidende Phase, Thomas Stebler drängt auf die Abstimmung zur Fusion der drei Sektionen. Einzelne Mitglieder finden den Zusammenschluss vereinsrechtlich nicht ganz sauber, übereilt auch. Am Ende aber kommt Steblers Plan durch. Die drei Sektionen stimmen der Zusammenlegung zu. Applaus. Die Hoffnung auf neuen Schub ist spürbar. 

Am Ende der GV des KLM richtet sich Präsident Stebler in aller Dringlichkeit an die Anwesenden: «Wie halten wir den KLM am Leben? Es sind alle gefragt. Es braucht den Einsatz von allen!» Er wünscht sich, dass sich mehr Leute einbringen – und auch mal den einen oder anderen Anlass organisieren. 

Sie hätten nun auch eine Whatsapp-Gruppe. Und auch Social Media sei wichtig. Allerdings sei gerade niemand da, der die Kanäle bewirtschafte. Noch so ein Problem.