Kandidaten auf ShortlistWer hat die besten Chancen auf den Schweizer Buchpreis?
Am kommenden Sonntag wird die Auszeichnung verliehen. Als Geheimtipp gilt Sarah Elena Müller («Bild ohne Mädchen»). Wir haben die Bücher der Nominierten gelesen und schätzen ihre Preiswürdigkeit ein.
Nachdem 2022 alle über ein einziges Buch, «Blutbuch» von Kim de l’Horizon, gesprochen haben, was leider viel zu selten passiert in der Literatur, hat man es dieses Jahr mit einer unberechenbaren Shortlist zu tun.
Nächsten Sonntag wissen wir, welches deutschsprachige Werk 2023 mit 30’000 Franken im Rahmen der «BuchBasel» ausgezeichnet wird.
Vielleicht der achtzigjährige Christian Haller, dem bis heute die grossen Preise verwehrt blieben? Oder Demian Lienhard, der an das perfide System der NS-Propaganda erinnert? Oder doch die einzige Frau auf der Shortlist, Sarah Elena Müller, die ihr beachtliches Debüt im linksalternativen Milieu der 90er-Jahre spielen lässt?
Die Jury begründet ihre Auswahl jedenfalls mit der «sprachlichen Präzision und Virtuosität» der Texte. Und gerade deshalb stellt sich die Frage, wo ist Mina Hava mit ihrem virtuosen Debüt «Für Seka», das bei Suhrkamp erschienen ist? Es bleibt spannend. Dieses Jahr ist mit allem zu rechnen. (zuk)
Sarah Elena Müller: «Bild ohne Mädchen»
Moment. Ist da wirklich etwas passiert, als das Mädchen im gelben Bademantel beim Nachbarn in der abgedunkelten Wohnung vor dem Fernseher sass? Und auch wenn er mit seiner Kamera filmte, war das Kind doch eigentlich kaum im Bild. «Bild ohne Mädchen» ist ein erstaunlicher Debütroman über Kindesmissbrauch im linksalternativen, kunstaffinen Milieu der Neunzigerjahre. Mit einem starken Effekt: Man liest und blättert zurück, hat man den Missbrauch überlesen? Steht er gar nicht dort, oder hat man ihn gar selbst dazuerfunden?
Die Mutter arbeitet als Künstlerin, der Vater schützt bedrohte Tier- und Pflanzenarten. Dass das Kind oft bei den Nachbarn ist, kommt den vergeistigten Eltern nicht ungelegen. Aber wenn es mit Taucherbrille und Schnorchel in die Badewanne geht, hört man das Schluchzen aus dem Schnorchel. Mit seinen Videos muss der Nachbar seine Kunst mit Kinderkörpern vollenden. Seine Frau schaut weg. Müllers Debüt gewinnt an Qualität, weil sie den Missbrauch nie ausformuliert. Und trägt bis zum Schluss durch eine ungeheuerliche Sprache, intellektuelle Präzision, dank der wir weder zu Voyeuren noch Moralisten werden. Vielleicht wird beim Lesen sogar das Recht auf Verdrängung weitergegeben. (zuk)
Preiswürdigkeit: hoch
Sarah Elena Müller: Bild ohne Mädchen. Limmat-Verlag, 2023. 200 S., ca. 30 Fr.
Demian Lienhard: «Mr. Goebbels Jazz Band»
Zu Beginn des Jahres 1940 wurde in Berlin eine Big Band gegründet. Die Mr. Goebbels Jazz Band spielte für den Auslandsradiosender Germany Calling und wurde auch «musikalische Schattenarmee» genannt. Über die Swingmusik wurden propagandistische Texte gelegt; diese Musik erreichte über 6 Millionen britische Haushalte. Die Musiker, teils Juden, Hauptsache die besten des Landes, spielten wortwörtlich um ihr Überleben. Das ist alles wahr.
Demian Lienhard erfindet einzig einen Autor, Fritz Mahler, der im Krieg aus der Schweiz nach Berlin zieht, mit dem Auftrag, einen Propagandaroman über die Big Band zu schreiben. Lienhard erinnert uns mit seinem zweiten Roman an den menschenverachtenden Zynismus und das perfide System der NS-Propaganda. Dieser Wirklichkeit in ihrer Dramatik fiktional zu entsprechen, ist ausgesprochen anspruchsvoll. Lienhard gelingt dieses Wagnis gut. Und zum Schluss meldet sich dann der Herausgeber von Mahlers Roman kurz zu Wort: Demian Lienhard. (zuk)
Preiswürdigkeit: gut
Demian Lienhard: Mr. Goebbels Jazz Band. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2023. 314 S., ca. 33 Fr.
Matthias Zschokke: «Der graue Peter»
Wollte er den beiden unvergesslichen «uninteressanten» Menschen der Literatur, Flauberts Félicité und Melvilles Bartleby, nacheifern? Matthias Zschokke, in Berlin lebender Schweizer Autor mit Jahrgang 1954, hat den «grauen Peter» erfunden, dem ein «Gefühlschromosom» fehlt und der neben seiner Frau und seinem Beruf her lebt. Ein Gewohnheitstier, nicht mal der Tod seines Kindes vermag ihn aus der seelischen Starre zu befreien.
Dieser Peter ist natürlich aber auch ein Kauz, denn sonst gäbe es nichts zu erzählen. So schickt ihn der Autor auf eine Reise, von Berlin nach Nancy und zurück durch die französische Provinz, in Begleitung eines ihm anvertrauten kleinen Jungen, über den er seine angesammelten Lebensweisheiten ausgiesst.
«Normalerweise räume man doch beim Erzählen alles Nebensächliche zur Seite und wolle so schnell wie möglich zum Eigentlichen vordringen», heisst es einmal. Hier ist das Nebensächliche das Eigentliche. Vom Ausdrücken eines Pickels über den Nestbau von Amseln zur Geschichte der Kamelie geht es kunterbunt zu und ohne Rücksicht auf Ökonomie und Zielführung. Das liest sich ganz amüsant, aber ohne, wie sagt man heute: Nachhaltigkeit. (ebl)
Preiswürdigkeit: gering
Matthias Zschokke: Der graue Peter. Roman. Rotpunktverlag, Zürich 2023. 170 S., ca. 30 Fr.
Christian Haller: «Sich lichtende Nebel»
Um über das Kopenhagen der Zwanzigerjahre zu erzählen und dabei einen Bogen bis zur Quantenphysik zu schlagen, braucht es offenbar nur 122 Seiten. Das beweist Christian Haller mit seiner Novelle «Sich lichtende Nebel».
Der Geschichtsprofessor Herr Helstedt spaziert 1925 nachts durch Kopenhagen. Historisch inspiriert von Physiker Heisenberg, der wegen Heuschnupfen nach Helgoland an die Meeresluft ging und dort über die Quantenphysik nachdachte.
Haller lässt seine Figur das Gegenteilige von Heisenberg tun, der in der Physik Klarheit fand: Helstedt verliert sich im Nebel des Nichtwissens, was denn nun der atomare Kern des Menschens sei. Sein pragmatischer Freund Sörensen ist ihm auch keine Hilfe, der nimmt die diffusen Wahrnehmungen Helstedts nicht ernst. Das Drama beginnt, und Haller erzählt davon voller Mitgefühl.
Der achtzigjährige Autor nähert sich seinem Stoff an, ganz im Stil seiner anderen Bücher, die nie Behauptungsliteratur sind. Bei Haller ist das Ungefähre stilistisches wie sprachliches Programm. Daran gibt es überhaupt nichts auszusetzen. Und doch verschwindet seine diskrete Erzählung etwas bald nach der Lektüre. Wie dann, wenn in der Novelle Helstedt aus dem Licht der Strassenlaternen im Dunkeln verschwindet. (zuk)
Preiswürdigkeit: gut
Christian Haller: Sich lichtende Nebel. Luchterhand-Verlag, München 2023. 128 S., ca. 32 Fr.
Adam Schwarz: «Glitsch»
Die Erderwärmung ist in naher Zukunft so weit fortgeschritten, dass Kreuzfahrtschiffe über die Nordost-Passage an Sibirien vorbeifahren. Eisberge gibt es keine mehr, Fische auch nicht, an Bord der «Grey» nur noch «Analogfisch» und «Analogfleisch». Unter den Passagieren: Léon Portmann, 28, etwas verpeilt, im Leben noch nicht angekommen, zusammen mit seiner Freundin Kathrin, die aber bald die gemeinsame Kabine verlässt. Er sucht sie überall auf dem Riesenschiff und gerät dabei selbst ins Zwielicht, bald ist er «aus dem System gefallen». Auch innerlich: Léon verliert sich in den Labyrinthen eines Computerspiels und einer Verschwörungstheorie.
Sind Passagiere und Besatzung (O-Ton des politisch korrekten Autors: «Mitarbeitende») Anhänger einer Sekte, deren Guru mit Namen Salarius die Rückkehr der Menschheit ins Meer predigt? So wirr wie diese Zusammenfassung liest sich das Buch des «bz Basel»-Kulturchefs Florian Oegerli alias Adam Schwarz. Eine gescheiterte Beziehungsgeschichte? Eine Dystopie? Das Protokoll eines Ich-Verlusts? Die Übertragung von Programmierfehlern im Computerspiel («glitches») auf die Realität? Alles ein bisschen, nichts richtig. Das Nachwort von Philipp Theisohn hilft da auch nicht weiter. (ebl)
Preiswürdigkeit: gering
Adam Schwarz: Glitsch. Roman. Zytglogge, Basel 2023. 296 S., ca. 33 Fr.
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