Schweizer Buchpreis 2023Was für eine brave Entscheidung
Der 80-jährige Autor Christian Haller wurde für seine Novelle «Sich lichtende Nebel» gewürdigt. Am Buch ist nichts auszusetzen, aber der Schweizer Buchpreis sollte keine Lebenswerke auszeichnen.

Voller Rührung steht Christian Haller mit dem Blumenstrauss vor dem Publikum und dankt seinem eigenen Buch. Dafür, dass ihn seine Novelle «Sich lichtende Nebel» immer wieder dazu gezwungen habe, lange daran zu arbeiten. Der Jury sei es gelungen, «einen der seit 60 Jahren an der Sprache arbeitet, sprachlos zu machen». Man glaubt dem 80-Jährigen die Bescheidenheit sofort. Eher ungläubig lässt einen hingegen die Entscheidung der Jury zurück.
Sie ist weder überraschend noch irritierend, aber es wurde ein Autor, der bis heute bei allen grossen Preisen übersehen wurde, für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Und Lebenswerke würdigt eigentlich das Bundesamt für Kultur mit dem Grand Prix Literatur.
Christian Haller, als Kind Legastheniker, der bis heute merke, wenn sich die Buchstaben verdrehten, hat sich über die Zeit in allen Sparten bewiesen: Lyrik, Theaterstücke, Romane und zwei autobiografische Trilogien über sein Leben bilden sein Gesamtwerk.
«Sich lichtende Nebel» ist eine Novelle, die das Philosophische im Physikalischen sucht. Wie zuverlässig ist unsere Wahrnehmung, und wie sagbar ist das Unsagbare? Diese Fragen stellt Haller und nähert sich ihnen mit sprachlicher Eleganz. Annäherung ist eines seiner Stilmittel.
Um über das Kopenhagen der Zwanzigerjahre zu erzählen und dabei einen Bogen bis zur Quantenphysik zu schlagen, braucht er nur 122 Seiten. Der Geschichtsprofessor Helstedt spaziert 1925 nachts durch Kopenhagen: Historisch inspiriert vom Physiker Werner Heisenberg, Mitbegründer der Quantenphysik, der auf einer Parkbank sass und einen Mann sah, der im Licht der Strassenlaterne auftaucht und im Dunkel dazwischen wieder verschwindet.
Wo ist dieser Mann in der Zwischenzeit? Existieren Dinge nur, wenn wir sie sehen? Haller lässt seine Figur das Gegenteilige von Heisenberg tun, der in der Physik Klarheit fand: Helstedt verliert sich im Nebel des Nichtwissens, was denn nun der atomare Kern des Menschen sei.

Neben Haller galt Sarah Elena Müller mit «Bild ohne Mädchen» als Favoritin – ein erstaunlicher Debütroman über Kindesmissbrauch im linksalternativen Milieu der Neunzigerjahre. Ihr Erzählen überzeugt durch eine ungeheuerliche Sprache und intellektuelle Präzision, dank der wir weder zu Voyeuren noch Moralisten werden.
Man möchte hoffen, es sei bis zum Schluss zwischen Müller und Haller knapp gewesen.
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