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Neuer Roman von Bestsellerautor
Richard Russo blickt tief ins Innere Amerikas

HAY-ON-WYE, WALES - JUNE 04:  Richard Russo, Pullitzer Prize winning writer, at the Hay Festival on June 4, 2017 in Hay-on-Wye, United Kingdom.  (Photo by David Levenson/Getty Images)
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Spät erst ist der US-Autor Richard Russo dem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht worden, 30 Jahre nach seinem Debüt «Mohawk», immerhin 15 nach dem Pulitzerpreis für «Empire Falls». Aber dann mit nachhaltigem Erfolg. Russos immer recht voluminöse Bände, die der Dumont-Verlag jetzt nach und nach in guten Übersetzungen herausgibt, stehen in den Regalen vieler Bücherfreunde, die sich nicht sattlesen können an den Schicksalen der liebevoll gezeichneten Loser aus abgehängten Kleinstädten im Nordosten der USA, aus der Gegend, die Russo selbst am besten kennt.

So eine Stadt ist das fiktive North Bath, dort spielte «Nobody’s Fool», erfolgreich verfilmt mit Paul Newman, ebenso wie sein Nachfolger «Everybody’s Fool» (deutsch: «Ein Mann der Tat»). Dem jüngsten Roman hat Russo, nun schon fast zwanghaft dem Serienton gehorchend, den Titel «Somebody’s Fool» gegeben, in deutscher Übersetzung heisst er «Von guten Eltern».

Schwarze Polizeichefin kämpft mit Rassisten in ihrer Truppe

North Bath, das schon immer im Schatten der glücklicheren Nachbarstadt Schuyler Springs stand, ist von dieser nun geschluckt worden und verliert im Zuge von «Strukturbereinigungen» und «Synergieeffekten – also Sparmassnahmen» – auch die eigenständige Polizeistation. Deren Chef, Douglas Raymer, kennen Russo-Leser aus dem Vorgängerband als ebenso grundanständig wie von Selbstzweifeln geplagt. Dass er einst Wahlkampf machte mit dem verunglückten Slogan «Wir sind erst zufrieden, wenn Sie nicht zufrieden sind», plagt ihn noch heute (auch wenn seine Therapeutin ihm geraten hat, «dazu zu stehen»).

Raymers Freundin Charice leitet das Polizeirevier von Schuyler Springs, als Schwarze hat sie es nicht leicht mit den Rassisten in ihrer Truppe. Charices Zwillingsbruder Jerome, der auch Polizist war, leidet nach einem psychischen Zusammenbruch an etlichen Zwangsstörungen – unter anderen der, dass alle weissen Frauen hinter ihm her seien und dass ihm deshalb bald drohe, gelyncht zu werden.

«Mach was, irgendwas! Und wenns nicht klappt, mach was anderes!»

Eine der schrägsten Gestalten der vorangehenden Romane war Donald Sullivan alias «Sully», dessen auf ganzer Linie gescheitertes Leben komplett mit seiner grandiosen inneren Wahrheit kontrastierte. Sully ist tot, aber die Leser müssen ihn nicht allzu sehr vermissen im neuen Roman, weil er aus dem Jenseits eine ungleich segensreichere Rolle spielt als zu Lebzeiten. Statt die Dinge auf slapstickhafte Weise ständig zu vermasseln, scheint er die Figuren, insbesondere seinen Sohn Peter, allein durch die Erinnerung an bestimmte seiner Handlungen oder Sprüche («Mach was, irgendwas! Und wenns nicht klappt, mach was anderes!») zu den richtigen Entscheidungen zu führen.  

Was nicht immer leicht ist, wenn man so tief im Schlamassel steckt, dass einem scheinbar nur die Wahl zwischen zwei falschen bleibt. Oder man, wie Janey, die Besitzerin des fast bankrotten Diners Hattie’s, zielsicher die falschen Männer wählt, nämlich primitive Schläger. Wie immer bei Russo ist das Reservoir an Figuren enorm, und wie immer darf jede einmal die Hauptrolle spielen, und sei es für ein paar Seiten: Da sind wir ganz bei ihr und in ihrem Kopf drin, mit all den krausen Windungen ihrer «Haarknäuelgedanken».

Darf man, wenn der Chef tot ist, endlich seinen Lieblingssnack essen?

Zum Beispiel beim Polizisten Miller, der ein Vernehmungsprotokoll unterschreiben soll, das voller Lügen ist, aber weil es sein Vorgesetzter abgefasst hat… Er mag ihn nicht, weiss, dass es falsch ist, was er tut, aber schliesslich unterschreibt er es doch, ruft aber später seinen früheren Chef Raymer an, gesteht alles, will kündigen, weil er doch ein so schlechter Polizist ist…

Oder Rub Squeers, der immer sonntags Dienst schiebt im Abschleppdienst Harold’s. Rub hasst seinen Chef, weil der ihn ständig schikaniert und demütigt. Als der Chef überraschend gestorben ist, sitzt Rub allein im Büro, hat soeben seinen Job verloren und weiss nicht, ob er aus dem Schrank die Lieblingssnacks seines Chefs nehmen darf – was ihm streng verboten war. Er braucht die Stimme des toten Sully, der ihm früher immer sagte, was er zu tun hat, um sich dazu durchzuringen.  

Von «deplorables» und anderen politischen Worthülsen

Als Hillary Clinton im Wahlkampf 2016 verächtlich von den «deplorables», den Erbärmlichen, sprach, hat sie das viele Stimmen, vielleicht den Wahlsieg  gekostet. Umgekehrt hat der spätere deutsche Kanzler Scholz mit dem Begriff «Respekt» gezielt um Zustimmung bei einkommensschwachen Schichten geworben. «Deplorables» wie «Respekt», der negative wie der positive Begriff, sind politische Worthülsen. Kein Mensch aus Fleisch und Blut wird sich damit in Verbindung bringen.

In Richard Russos Romanen, auch wieder in diesem, gibt es keine «deplorables», erhält jede Figur Respekt, Würde, mehr noch: liebevolle Zuwendung. Selbst der grösste Unsympath des Buchs, der rassistische, gewalttätige Polizist Delgado, erhält eine lange Tirade, aus der man immerhin etwas lernt: wie das Weltbild eines wahrscheinlich nicht ganz kleinen Teils der USA (und der US-Wählerschaft) funktioniert. «Sie meinen, wir sind alle Amerikaner? Blödsinn. Wir leben alle in Amerika. Das ist nicht das Gleiche. Entweder gehört man einer verschworenen Gemeinschaft an, oder es passieren einem schlimme Dinge», belehrt er den noch uneinsichtigen Kollegen Miller. 

Die USA als eine mafiöse Gemeinschaft von Clans

Delgados Sicht der USA als einer mafiösen Gemeinschaft von Clans – hier die Polizei, dort die «reichen Juden», da die «Arschlöcher auf diesem 40-Riesen-pro-Jahr-Privatcollege» etc. – ist verrückt, aber von vollkommener innerer Logik, sie prägt jeden seiner Handlungsschritte.

Als verrückt gilt auch Charice’ Bruder Jerome, dessen Zwangsstörung sich aber einerseits glücklicherweise in immer grösserer Alltagstauglichkeit auflöst, andrerseits auf eine tiefergreifende nationale Störung verweist: das kollektive Trauma der Sklaverei. Zu den schönsten und erhellendsten Erfindungen Russos in diesem Roman gehört Jeromes Unterscheidung von weisser und schwarzer Zeit.  

Die schwarze Zeit führt zurück in die Sklaverei

Die weisse Zeit gehe ticktack voran, eins, zwei, drei, vier, erklärt Jerome dem verblüfften Raymer. Die schwarze dagegen ist wie Jazz: eins, sieben, drei, zwei, zwölf. «Das erste Tick in der schwarzen Zeit ist die Sklaverei, und alle anderen Ticks und Tacks kehren immer wieder dorthin zurück.» Durch die Gespräche mit Jerome begreift Raymer, dass Schwarze immer das sind, was Weisse in ihnen sehen – während Weisse einfach das sind, was sie sind. «Und weisst du, wie man das nennt? Freiheit.»

Richard Russo ist ein grosser Menschenfreund. Er verschafft seinen Figuren durchaus kein Happy End, das wäre eine billige «amerikanische» Lösung, angesichts der Situation auch eine unglaubhafte. Aber er deutet Wege an, die sie gehen können. Die Besitzerinnen zweier serbelnder Kneipen können sich zusammentun. Und Peter und sein Sohn können ein völlig verkorkstes, ja ein nicht existentes Verhältnis neu starten. Ein «Zu spät» gibt es hier nicht. Das letzte Wort hat noch mal Sully: «Mach was, irgendwas! Und wenns nicht klappt, mach was anderes!»

Richard Russo: Von guten Eltern. Roman. Aus dem Englischen von Monika Köpfer. Dumont, München 2024. 574 S., ca. 40 Fr.